Der kleine Gott

Ein Kind in einer Menschenmenge, ganz alleine, auffällig geschminkt, sich zwischen den Erwachsenen hindurchzwängend. Ein gutes Motiv?

von Jamari Lior
© Foto Jamari Lior

Wir befinden uns in einer indischen Stadt, ein Fest steht bevor, Menschen drängen sich am Ufer des Ganges, improvisierte Absperrungen aus Holz und Seil stören mehr, als dass sie die Menschenmengen leiten können. Mein Blick fällt auf einen kleinen Jungen, auffällig geschminkt und kostümiert. Er zieht Frauen an ihren bunten Saris, Männer an ihren Hemdärmeln – er will Geld und verteilt dafür Segen. Kinderarbeit also. Ich zücke instinktiv die Kamera, lasse sie dann wieder sinken, ich bin hin- und hergerissen. Soll ich fotografieren? Zur Dokumentation gehört auch dieses Bild. Allerdings unterstütze ich damit Kinderarbeit.

Der kleine Junge hat mich längst gesehen und hält die Hand auf. Vielleicht ist das der Moment, in dem man bewusst kein Geld geben und ein Statement setzen sollte? Aber was kann der Kleine für die verfahrene Situation? Wäre es für ihn und seine Familie nicht besser, ihm ein paar Rupien zu geben? Oder lieber etwas Essbares – aber ob meine Bonbons ihm schmecken würden? Und gesund sind sie sowieso nicht. Noch während ich überlege hatten sich meine Hände in die Hosentasche geschoben und einen 20-Rupienschein herausgefischt, umgerechnet keine 50 Cent, die typische Gabe. Genauso unbewusst war meine Hand auch schon an der Kamera. Ich wollte dokumentieren und dazu gehört das Gute ebenso wie auch das Schlechte, das Zweifelhafte, dachte ich mir.


 

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