Blick auf Heidelberg: Bei solchen Aufnahmen darf der Vordergrund nicht leer sein. Deswegen ist das Heidelberger Schloss am Rande ins Bild gerückt. So entsteht ein Foto, kein Knipsbild. Leica M10-P mit Elmarit-M 1:2.8/28 mm ASPH
Weitwinkelobjektive sind ungeschlagen, wenn es um perspektivische Wirkung geht – und damit die perfekten Werkzeuge für die kreative Fotografie. Wir zeigen Ihnen, wie man sie richtig einsetzt und für die eine spannende Bildgestaltung nutzt.
Von Harald Wittig, © Fotos Harald Wittig
Alle Lehrbücher zur Fotografie für Einsteiger beschreiben Weitwinkelobjektive ähnlich: Sie dienen dazu, besonders viel aufs Bild zu bekommen. Das ist im Grunde genommen richtig – immerhin haben diese Objektive einen besonders großen Bildwinkel und erfassen deswegen besonders viel vom Motiv. Gleichzeitig ist diese Pauschalaussage vom Standpunkt des Kreativen unfassbar öde und wird dem Gestaltungspotenzial dieser Optiken kaum gerecht. Denn was Weitwinkelobjektive besonders gut drauf-haben, ist eine – je nach Brennweite – Verstärkung der perspektivischen Wirkung. Durch die Verlängerung der Fluchtlinien entsteht ein Bild, das unserer Wahrnehmung zwar nicht mehr entspricht, dafür aber ungemein faszinieren kann. Wenn Sie einige wenige Punkte beim Umgang mit Weitwinkelobjektiven beachten, gelingen Fotos, die mit ihrer besonderen Wirkung jeden Betrachter bestechen. Wenn Sie sich auf die Weitwinkelfotografie einlassen, werden Sie schnell ihr Suchtpotenzial erkennen. Es gibt tatsächlich Fotografen, die gar nichts anderes als ein Weitwinkel auf ihre Kamera lassen. Genug der Vorrede. Steigen wir ein ins Thema – mit etwas Grundwissen zu den Weitwinkelbrennweiten und ihren Einsatzdomänen.

Der Pulverturm des Heidelberger Schlosses: Erst die Einbeziehung des elegant geschwungenen Geländers macht dieses totfotografierte Motiv interessant.
Nikon D810 mit Nikkor AF-S 14 – 24 mm/2.8 G bei 14 mm
Von gemäßigt bis ultra: die Brennweiten
Obschon ein 35-mm-Objektiv – im Folgenden immer auf das Kleinbildformat bezogen – als Weitwinkelobjektiv durchgeht, beginnt die Weitwinkelfotografie mit dem 28-mm-Weitwinkel. Diese noch gemäßigte Brennweite verleiht den Bildern bereits eine steile Perspektive – die von uns angestrebte Weitwinkelwirkung. Gleichzeitig ist sie aber noch einfach in der Handhabung. Deswegen sind Objektive mit einer Brennweite um 28 mm bestens für den Einstieg geeignet. Selbstverständlich dürfen Sie, wenn Sie wie die meisten Fotoenthusiasten ein Standard-Zoom nutzen, die Brennweite nach Sicht etwas verkürzen oder verlängern. Gehen Sie aber nicht unter 24 mm nach unten und über 30 mm nach oben hinaus.
Das 28er ist ein Klassiker der Reportagefotografie, erfasst es doch dank seines Bildwinkels von 76° vergleichsweise viel von einer Szene. Vor allem die Darstellung des Menschen in seiner Umgebung gelingt mit dem 28er besonders eindrucksvoll. Ich selbst fotografiere viel mit einer Leica und habe des Elmarit-M 1:2.8/28mm ASPH schon vor Jahren als mein Immer-drauf-Objektiv gewählt, mein 50er und mein 90er setze ich eher selten ein. In der Messsucherfotografie wird das 28er interessanterweise als „Super-Weitwinkelobjektiv“ bezeichnet, was Sie aber nicht ernst nehmen sollten. Das bezieht sich wohl darauf, dass es sich um die kürzeste Brennweite handelt, deren Leuchtrahmen noch im Sucher eingespiegelt wird.
Ernst nehmen sollten Sie das 28er aber in jedem Fall und deswegen gibt es sogleich zwei Top-Tipps für den optimalen Umgang mit dieser und – noch besser – jeder Weitwinkelbrennweite:
1. Folgen Sie bei der Bildgestaltung den Fluchtlinien. Eine gekonnte Linienführung macht ein Weitwinkelfoto spannend. Vergessen Sie den „soviel draufbekommen wie möglich“-Ratschlag. Der beschert Ihnen Bilder, die Sie nicht allzu oft ansehen wollen. Es sei denn, Sie spielen mit Ihren Lieben gerne Wimmelbildergucken.
2. Gehen Sie nah ran. Das ist eine der goldenen Regeln der Weitwinkelfotografie: In der Nähe finden Sie die Kraft der Bilder. Deswegen sind die Fotos guter Bildjournalisten oft so dynamisch: Sie waren nahe genug am Hauptmotiv. Deswegen sollten Sie auch bei Landschaftsaufnahmen nie zu weit vom bildwichtigsten Teil entfernt sein.

Heidelberg Alte Brücke: Der temporäre Torbogen vor dem Tor, sein Schattenwurf und die Sonne am oberen Bildrand werten dieses typische Postkartenmotiv auf.
Nikon D810 mit Nikkor AF-S 14 – 24 mm/2.8 G bei 14 mm
In der Handhabung sind Brennweiten um 28 mm vergleichsweise problemloser als die viel kürzeren Brennweiten. Dennoch müssen Sie die Kamera präzise ausrichten, damit das Bild auch ohne nachträgliche Korrekturen in sich stimmig ist. Es ist wunderbar, dass wir im Digitalzeitalter leben und nachträglich in der Bildbearbeitungssoftware unserer Wahl Fotografien retten können. Zum Beispiel, indem wir schiefe Weitwinkelfotos mit dem „Gerade ausrichten“-Werkzeug wieder ins Lot bringen. Allerdings verlieren wir dadurch immer Bildinformationen. Schlimmstenfalls die Entscheidenden.
Deswegen empfehle ich Ihnen, Gitterlinien zum Ausrichten der Kamera und, sofern vorhanden, eine Wasserwaage in den Sucher einzublenden. Es ist zwar möglich, die Kamera mittels Abgleichs von Sucherbegrenzungen und Senkrechten sowie Waagerechten im Motiv auszurichten. Aber das ist nur eine Krücke, die immer noch genug Ausschuss produziert. Weil Sie es schon immer wissen wollten: Bei einer Leica sind die Leuchtrahmen ein verlässliches Hilfsmittel, um ein ungewolltes Verkanten der Kamera zu verhindern. Wie würde der bekannte Foto-Blogger Ken Rockwell – übrigens nach eigenem Bekunden ein „Weitwinkel-Junkie“ – sagen: „Klaever, dzeez Germans.“
Das 28er ist außerdem ein tolles Schnappschussobjektiv. Wenn Sie Ihres auf, sagen wir mal Blende 8 abblenden, müssen Sie sich weniger ums Scharfstellen sorgen. Ach so, Sie haben selbstverständlich eine Kamera mit überragendem Autofokussystem. Auch dann ist ein abgeblendetes Weitwinkel klasse, denn wegen der großen Schärfentiefe erfasst es nicht nur das Hauptmotiv gestochen scharf. Auch andere Personen oder Objekte werden hinreichend scharf erfasst, was Fotografen mit dem Blick aufs Ganze oft grandiose Bilder ermöglicht.
Ab 20 mm eröffnet sich dem Fotografen die weite Wunderwelt der Weitwinkelfotografie. In den uralten Zeiten, als Profis statt auf Zooms aus Qualitätsgründen meistens auf Festbrennweiten setzten, gehörte ein 20er in die Fototasche. Damit lassen sich schon wunderbare perspektivische Wirkungen erzielen und so manch eher langweilige Szene kann durch den 94°-Bildwinkel richtig spannend erscheinen. Menschen sollten Sie nicht zu nahe kommen, denn eine zu große Nähe führt wegen der verzerrenden Wirkung zu etwas grotesken Erscheinungen. Anders wäre es, wenn Sie beispielsweise die Hand eines Pianisten mit dem 20er in den Vordergrund rücken würden. Das Objektiv würde immer noch viel vom Instrument und dem Musiker erfassen, das Bild bekäme eine eigene Dynamik und Musikalität, würde also das Medium transzendieren.

Heidelberg Theaterplatz: Ein Ultraweitwinkel sorgt für maßlose perspektivische Übertreibungen und bringt damit Dynamik ins Bild. Gegenlicht mögen diese Objektive weniger. Dennoch lohnt es sich, die Optiken damit zu konfrontieren. Nikon D810 mit Nikkor AF-S 14 – 24 mm/2.8 G bei 14 mm
Stürzende Linien und perspektivische Übertreibungen
Gebäude sind typische Weitwinkelmotive – allerdings weniger, weil ein Ultraweitwinkel eine Kathedrale vom Fundament bis zum Turmkopf erfassen kann. Wir denken eher an die perspektivische Wirkung, die wir mit den sogenannten stürzenden Linien erzielen können. Nehmen wir das Kathedralen-Beispiel: Ein monumentaler Bau wie der Kölner Dom ist aus der Nähe kaum vollständig auf die Speicherkarte zu bannen – das schafft auch eine sehr kurze Brennweite nicht. Stattdessen empfiehlt es sich, die weitwinkelbestückte Kamera nach oben zu neigen, genau auf die Fluchtlinien zu achten und die Türme gen Himmel zeigen zu lassen. Wenn Sie es prosaischer bevorzugen, lassen Sie stattdessen ein Hochhaus an den Wolken kratzen – das Weitwinkel macht‘s auch für gar nicht so hohe Gebäude möglich.
Wenn Sie Gefallen an maßlosen perspektivischen Übertreibungen haben, dann brauchen Sie ein echtes Superweitwinkel mit einer Brennweite von 15, besser 14 Millimetern. Solche Objektive waren dereinst sehr teuer, wenn Sie einigermaßen gute optische Eigenschaften – geringe oder wenigstens perspektivisch richtige Verzeichnung, gute Schärfe bis zum Bildrand – vorzuweisen hatten. Nikon baute beispielsweise nur auf Anfrage das Nikkor 5.6/13mm, das zum Preis eines Kleinwagens fast verzeichnungsfrei abbildete. Dieses Objektiv ist so rar wie Mondstaub auf Erden und inzwischen unbezahlbar.
Zum Glück gibt es heute tolle Objektive, die erschwinglich sind und unterm Strich in gewisser Hinsicht sogar bessere Bilder garantieren. Solange Sie Bildschärfe besonders hoch bewerten und nichts gegen die inzwischen allgegenwärtige Verzeichnungskorrektur via Kamerasoftware einzuwenden haben. Wenn Sie eine spiegellose Systemkamera verwenden, bemerken Sie davon ohnehin nichts: Der elektronische Sucher zeigt Ihnen immer das korrigierte Bild, das auch Ihr Foto sein wird. Spiegelreflexfotografen werden eher mit der Wahrheit konfrontiert. Die muss aber gar nicht unbequem sein. So empfinden viele Betrachter eine ausgeprägte tonnenförmige Verzeichnung durchaus als harmonisch, zumal ein extremes Weitwinkel ohnehin Bilder liefert, welche die menschliche Wahrnehmung sprengen.

Blick vom Heidelberger Schloss: Bei Weitwinkelobjektiven machen die Geschehnisse am Bildrand erst den Reiz des Fotos aus. Nutzen Sie die Linienführung, um den Betrachter auf Details aufmerksam zu machen. Nikon D810 mit Nikkor AF-S 14 – 24mm/2.8 G bei 14 mm
Problematisch und übrigens kaum via Software korrigierbar ist hingegen die wellenförmige Verzeichnung. Die verbiegt horizontale Linien zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Sinuskurve, was mitunter sehr nerven kann – vor allem – aber nicht nur – bei Landschaften.
Sie dürfen davon ausgehen, dass die professionellen Ultraweitwinkelzooms für Vollformat, APS-C und MFT mit durchgängiger Lichtstärke von 1:2.8 eine hervorragende Abbildungsleistung haben. Ich selbst habe das berühmte Nikkor AF-S 14 – 24 mm/2.8G, das bei seinem Erscheinen im Jahre 2007 für Furore sorgte und nach wie vor mit seiner enormen Schärfe und schier unglaublicher Konstanz über den ganzen Brennweitenbereich beeindruckt. Nikon baut inzwischen auch eine Version für sein Z-System, wohlwissend, was seine Objektivdesigner vor immerhin 15 Jahren mit diesem optischen Meisterstück geschaffen haben.
Beim Umgang mit einem solchen Objektiv gilt alles, was wir bereits erwähnt haben, in besonders hohem Maße: Am kurzen Ende ist das Ausrichten der Kamera mitunter kniffelig. Um es klar zu sagen: Da kann ein Verschwenken um wenige Millimeter das Bild zerstören. Wenn Sie Landschaften oder Architektur mit einem Ultraweitwinkel fotografieren, ist deswegen das Stativ Ihr bester Freund.
Wenn Sie indes aus guten Gründen auf das gewichtige Hilfsmittel verzichten, heißt die Devise üben, üben, üben. Außerdem sollten Sie, wenn Sie aus der Hand fotografieren, nicht zu wenige Bilder machen. Damit am Ende nicht nur Ausschuss, sondern eben auch das Bild der Bilder dabei ist. Das ist im Übrigen auch kein billiger Amateur-Trick. Die besten Fotografen haben, wenn es ihnen möglich war, stets möglichst viele Varianten des einen Bildes, das im Kopf komponiert war, fotografiert. Sehen Sie sich mal nur die Magnum Contact Sheets/Kontaktbögen (ISBN-10: 3829606796) an. So manches ikonische Foto war sorgfältig geplant und keineswegs der geniale Schnappschuss, als der es oft verklärt wird.
Kreativ agieren
Außerdem sollten Sie auf Ihren Standpunkt, konkret den Winkel zur Sonne oder anderen Lichtquellen, achten. Konstruktionsbedingt sind Ultraweitwinkel keine Freunde von Streulicht, die gängigen Stummel-Streulichtblenden bewirken wenig bis gar nichts. Reflexionen und Geisterbilder lassen sich in Gegenlichtsituationen kaum vermeiden. Ein optischer Sucher liefert nicht immer verlässliche Informationen, die elektronischen Kollegen sind da viel besser.

Heidelberg Alte Brücke, Brückentor: Das Hochformat ist die beste Wahl, um unter Ausnutzung stürzender Linien das Bauwerk stilistisch zu überhöhen.
Nikon D810 mit Nikkor AF-S 14 – 24 mm/2.8 G bei 14 mm
Bevor Sie allerdings ganz auf das Fotografieren bei Gegenlicht verzichten, machen Sie besser aus der Not eine Tugend und kalkulieren die Reflexionen als Effekt ein. Manchmal lässt sich so ein zusätzlicher Akzent setzen, der ein Foto besonders anziehend macht.
Filter machen Spaß und ein Polarisationsfilter kann an Sonnentagen sehr bildverschönernd wirken. Allerdings müssen Sie darauf achten, keine zu dicken und zu kleinen Filter zu verwenden. Denn dann können Sie schon mit einem 28er Probleme mit Vignettierungen bekommen. Wählen Sie deshalb Einschraubfilter mit dem nächstgrößeren Gewinde als dem Ihres Objektivs.
Ein entsprechender Adapter, der Filter und Objektiv verheiratet, kostet wenig und schließt die Randabdunklungen von vorneherein aus. Klasse sind Filterhalter wie der in Ausgabe 4/2022 vorgestellte Rollei F:X Pro Mark 3 100 mm, da Vignettierungen systembedingt kein ernstes Problem darstellen. Allerdings wird die Kamera-Objektiv-Filtereinheit dann etwas weniger handlich. Wenn Handlichkeit besonders wichtig ist, sind Einschraubfilter die bessere Wahl.
Sehen ist alles
Wenn Sie unsere wenigen Ratschläge befolgen, ansonsten auf Ihren kreativen Blick vertrauen, können Sie überwältigende Bilder mit Weitwinkelobjektiven schaffen. Ohne viel Aufwand und langwieriges Lehrbuchstudium. Denn auch die Weitwinkelfotografie ist keine Geheimwissenschaft, sondern ein Ausdrucksmittel sehender Kreativer. Also: Erkunden Sie die wunderbare Welt der Weitwinkelperspektiven sehenden Auges. Es lohnt sich.
Hallo liebes Pictures Magazin Team,
Danke für den informativen Artikel! Auch in der Nachtfotografie bevorzuge ich Weitwinkel-Objektive. Hier meine Erfahrungen: https://pixel78.de/know-how/nachtfotografie-tipps-einstellungen