Fotografieren ohne Foto
Wenn es um Fotografie geht, steht meist das Ergebnis, das Foto, im Vordergrund. Wie sieht es aber mit der Tätigkeit, dem Fotografieren aus?
Von Jamari Lior
© Foto Jamari Lior
„Jeden Frühling fotografiere ich in unserem Garten wieder denselben blühenden Kirschbaum, dieselben Blumen und Blüten, Eidechsen und Schmetterlinge. Wäre es nicht klüger, die Zeit dafür zu verwenden, das vorhandene Bildmaterial zu systematisieren und kritisch zu sichten, das Beste auf Photoshop zu bearbeiten und es in geeigneter Form auszustellen und/oder zu publizieren?“, fragt sich der Soziologe Thomas Eberle. Die meisten von uns kennen dieses Gefühl: Fotografieren macht mehr Spaß als Sortieren, Sichten, Verwerten. Die Aktivität scheint schon einen Wert für sich dazustellen. Ist das wirklich so? Und wenn ja, warum?
Um dieser Sache nachzugehen, wollte ich Fotografen zu Wort kommen lassen und habe unter anderem eine Umfrage auf Facebook gestartet mit der Frage: „Hat das Fotografieren für Euch auch unabhängig von den Bildresultaten einen Wert? Wenn ja, welchen?“ Rasch hatte ich fünfzig Antworten beisammen und konnte mir ein eigenes Bild machen. Außerdem interviewte ich noch einige Fotobegeisterte.
Jagen und Sammeln
Im alltäglichen Sprachgebrauch gibt es zahlreiche Parallelen zwischen dem Jagen, dem Sammeln und dem Fotografieren: Man „pirscht sich an“, „nimmt etwas ins Visier“, „drückt ab“ oder „schießt“. Jagen wie Fotografieren scheint einen gewissen Kick zu geben. Hier schwingen Aspekte wie Aggression und Voyeurismus mit. „A photographer may easily steal what is private“, schrieb Halla Beloff schon 1983 und der Psychologieprofessor Martin Schuster verglich Fotografie mit sexueller Aktivität und dem Kick, den sie gibt. In meiner Umfrage jedoch erwähnte fast niemand ein Argument nahe am „Jagen und Sammeln“. Vielleicht spielt hier auch soziale Erwünschtheit eine Rolle. Meine Kontakte stammen zum überwiegenden Teil aus der Szene der inszenierten Menschenfotografie – da kommt es nicht gut, Jagdmetaphern zu verwenden. Eine gewisse Erleichterung wie nach einem gelungenen Schuss macht sich aber offenbar schon für die meisten breit, wenn ein Foto „im Kasten“ ist.
Flow
„Man ist mittendrin, ganz aufmerksam und fokussiert“ – kennen Sie dieses Gefühl? So etwas wurde von Mihály Csíkszentmihályi als „Flow“ bezeichnet, ein Gefühl von Glück. Für das Erleben von Flow braucht man eine Tätigkeit, die weder über- noch unterfordert. Diese Balance kann das Fotografieren besonders gut bieten: Die Aktivität selbst ist nicht sonderlich kompliziert und man kann sich den Schwierigkeitsgrad selbst in ganz unterschiedlicher Weise wählen: Fortgeschrittene können mit besonderen Techniken wie Langzeit- oder Mehrfachbelichtungen arbeiten, können aufwendige Sets arrangieren oder sich der Herausforderung stellen, besonders authentische Bilder zu machen.
Fotografie lehrt dabei auch, auf die kleinen Dinge im Leben zu achten: Mit einer inneren Offenheit nimmt man seine Umgebung wahr und sieht dann auch oft das sonst Übersehene – besondere Farbkombinationen, Muster oder Formen, die man sonst nie wahrgenommen hätte. Entdeckungen, über die man sich freut und die die Achtsamkeit trainieren.
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