Unter „Sammeln mit der Kamera“ vermutet man nicht unbedingt das beliebte Thema „Streetphotography“, aber das passt perfekt in diesen Kontext, sind diese Bilder doch Zeitdokumente, die zusammengetragen und gesammelt werden.

von Wolfgang Baus

© Fotos Wolfgang Baus

Es ist nicht ganz einfach, die Straßenfotografie zu definieren. Das fängt schon mit der Schreibweise an, die diskussionswürdig ist. Ich selber habe nichts gegen englische Begriffe im deutschen Sprachgebrauch, aber die „denglische“ Mischung „Streetfotografie“ tut bestimmt nicht nur mir weh. Deswegen bevorzuge ich die Schreibweisen Streetphotography, Straßenfotografie oder Dokumentarfotografie. Und damit sind wir auch schon bei dem nächsten Streitpunkt. Per Definition sind Dokumentarfotos Aufnahmen, die eine spezifische Zeit und dafür typische Motive abbilden, während die Streetphotography den einen Augenblick in einer Situation, den Moment herauspickt und damit eine kleine Geschichte erzählt. Wobei die Straßenfotografie in meiner Definition dann doch auch Zeitdokumente beinhaltet, die nicht unbedingt nur im urbanen Umfeld mit menschlicher Beteiligung entstehen, sondern auch Aufnahmen in Feld, Wald, Wiese oder einfach nur solche von Dingen, Nebensächlichkeiten, Formen oder Farben sein dürfen.

Die Straßenfotografie ist eine sehr traditionelle Form der Fotografie, die sich zwar ständig weiterentwickelt, aber auch immer wieder an historischen Vorbildern orientiert. Sie entstand in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts und gewann schnell an Beliebtheit. Die damals neu aufkommenden Zeitschriften hatten für ihre Gesellschaftsberichte Bedarf an vielen Bildern, und die Fotografen konnten, dank der immer kompakter werdenden Kameras, diesen Wunsch immer besser erfüllen.

Schon die großen Vorbilder fotografierten Geschichte(n)

Auch wenn Robert Frank, Saul Leiter, Henri Cartier Bresson, Elliot Erwitt und einige andere Fotografen als Urväter der Streetphotography gelten, waren es für mich Berichte über Vivian Maier, die mein Interesse an diesem Genre weckten. Eine Kiste mit alten Fotos, die auf einer Auktion auftauchten, war der Startpunkt der Geschichte eines Kindermädchens, das seit den Fünfzigerjahren vornehmlich in Chicago alles fotografierte, was ihr vor die Linse kam. Mehr als 100.000 Bilder hat sie aufgenommen, einen Teil davon hat sie nicht einmal entwickelt und erst recht kaum jemandem gezeigt. Die Bilder, die bei ihr – wie bei den anderen großen Fotografen der Streetphotography-Geschichte – vermeintlich banale Alltagssituationen zeigen, gelten heute als unermesslicher Schatz. Sie sind Zeugen einer bestimmten Zeit, nämlich Dokumente der Jahre seit Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts bis 2009, die verstreut auf den Dachböden bei vielen ihrer ehemaligen Arbeitgeber gefunden wurden.

All diesen Fotografen war aber eins gemeinsam: Sie mussten nicht lange reisen, sondern nur vor die Haustür gehen, um in ihrem Umfeld Bildeindrücke zu sammeln. Den Fotoapparat immer dabei zu haben war dank der für damalige Verhältnisse kompakten Kameras auch zunehmend einfacher. Vivian Meyer war zunächst bekannt für ihre Rolleiflex Rollfilmkamera, stieg dann aber später auf die kompakteren Kleinbildkameras um. Noch heute sind Fotoapparate wie Leica Q, Fujifilm X100, Olympus Pen F, Ricoh GR und zunehmend auch Smartphones Standardwerkzeuge für diese Motivwelt. Je weiter ein Straßen- oder auch ein Dokumentarfotograf in seiner persönlichen Entwicklung ist, desto reduzierter werden oft auch die Ausrüstung und damit die Brennweite. Das ist auch der Grund dafür, dass die oben genannten Kameras mit ihren Brennweiten von 28 oder 35 mm meist völlig ausreichend beziehungsweise geradezu ideal sind. Mit ihnen sind die Fotografen selber mittendrin in ihrer Motivwelt und fallen kaum auf. Sie erstellen keine Paparazzibilder irgendwo von außerhalb. Ihre Aufnahmen leben durch ihre Authentizität, weil sie dazugehören.

Völlig ausreichend ist meist auch die Begrenzung auf Schwarz-Weiß und die dazwischen liegenden Grauwerte. Auch hiermit folgt man der Tradition, denn gute Geschichten benötigen oft keine Farbe. Gern nutzt man auch die Unzulänglichkeiten der frühen Fotozeit, wie zum Beispiel Unschärfen, Bildrauschen oder Vignettierungen für einen eigenen Bildlook. Gleichzeitig sind es solche Gestaltungskniffe, die der gewiefte Fotograf sich zunutze macht, um „gesichtslos“ zu fotografieren, denn Menschen aufzunehmen ist ein heikles Thema. Jeder Fotograf dieses Genres kennt Sprüche, wie „… das ist verboten …“. Hier kommt dann auch die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ins Spiel. Denn das Fotografieren von Menschen, ehedem elementarer Bestandteil von Bildern und sehr typisch für die Streetphotography, ist heute unter Strafe verboten. . In der Datenschutzgrundverordnung ( DSGVO) ist festgeschrieben, dass, einfach ausgedrückt, Aufnahmen nicht gestattet sind, auf denen Menschen erkennbar sind. Das Ganze gilt allerdings nur, wenn  der Fokus des Fotos auf den einzelnen Personen und ihrer fotografischen Präsentation liegt. Gruppen wiederum, ohne Konzentration auf einzelne Menschen, dürfen aufgenommen und gezeigt werden. Die Rechtsprechung ist allerdings nicht einheitlich und lässt viel Interpretationsspielraum. Selbst das Zauberwort „Kunst“ sticht vielfach nicht mehr. Und auch, wenn Ihr Motiv freundlich in die Linse lächelt, ist dies nicht unbedingt als Zustimmung zur Veröffentlichung des Bildes zu verstehen. In diesem Zusammenhang muss ich einmal betonen, dass schon ein Teilen von Bildern in den Sozialen Medien, wie Facebook, Instagram und Co., als Veröffentlichung zählt.

Für mich gilt: Ich fotografiere Menschen, alleine oder in Gruppen, nur so, wie ich auch selber abgebildet werden möchte. Und dann fotografiere ich doch ab und zu Menschen mit erkennbaren Gesichtern. Bilder von Unfällen oder vom Unglück anderer Menschen gehören nicht zum guten Ton; darüber ist man sich auch in weiten Teilen der Szene, in der man sich kennt und miteinander vernetzt ist, einig.

Miteinander Spaß haben

In vielen Städten haben sich Streetphotogrphy-Gruppen gebildet, die miteinander kommunizieren und gemeinsam fotografieren. Der bisherige Höhepunkt der deutschen Straßenfotografie-Szene fand 2019 in Hamburg statt. Marco Larouss, Martin U. Waltz und Siegfried Hansen haben das „1. German Street Photography Festival“ veranstaltet. Nicht von ungefähr sind dies auch wichtige Namen der deutschen Streetphotography-Szene. Martin als Betreiber der Website „Streetberlin.net“ ist eine Instanz und wie die beiden anderen ein gesuchter Workshoptrainer. Zusammen mit anderen Fotografen sind sie auch federführende Autoren des Buches „Streetfotografie – made in Germany“ (ISBN 978-3-8362-6117-3) aus dem Rheinwerk Verlag, das sowohl für Anfänger als auch für Fortgeschrittene empfehlenswert ist.

Für mich einer der begnadetsten Straßenfotografen ist Thomas Leuthard. Er hat sich inzwischen leider aus diesem Genre zurückgezogen, uns allen aber einige Online-Publikationen hinterlassen, die viele Tipps und Ratschläge zur Straßenfotografen enthalten.

An dieser Stelle möchte ich auch das Magazin der Kölner Gruppe Soul of Street empfehlen, das mehrmals im Jahr Informationen aus der Szene liefert. Streetphotography kann man lernen und man muss dafür viel üben. Was auf den ersten Blick wie eine banale Alltagsszene aussieht, in der kaum jemand ein Fotomotiv entdeckt, kann in den Augen eines geübten Straßenfotografen zu einem Weltklassefoto werden. Oftmals hilft es, die Aufnahmeposition zu ändern und damit neue Perspektiven zu entdecken. Den Standpunkt tiefer, höher oder einen Schritt zur Seite ergibt unter Umständen ein ganz neues Bild – im Wortsinn.

Fotografieren ist wie Kochen, man muss die Zutaten der Bildgestaltung kennen und anzuwenden wissen. Wie wirken sich Sonne und Schatten aus, wie kann man Spiegelungen zur Bildgestaltung nutzen oder welche Elemente, wie etwa Zebrastreifen, Zäune oder Gitter stehen zur Verfügung? Obendrauf haben wir die Herausforderung der DSGVO-konformen Fotografie.

Es ist aber gar nicht so schwer, „gesichtslos“ zu fotografieren. Spiegelungen an Fensterscheiben oder verdeckende Elemente der städtischen Umgebung sind ein probates Mittel, um Menschen unkenntlich zu machen. Und auch durch starke Kontraste oder im Gegenlicht verlieren Personen die Erkennbarkeit, ohne den Bildern die Idee zu nehmen. Wenn alles nicht funktioniert, hilft die Bewegungsunschärfe. Bilder, auf denen die Protagonisten in Bewegung abgebildet werden, geben den Fotos sogar eine gewisse Dynamik.

 

Bewährtes weiterentwickeln

Aber nicht nur Menschen sind dankbare Motive. Gegensätze wie groß und klein, dick und dünn, alt und neu, hell und dunkel oder Farbkontraste geben viele Motive her. Und so kann Farbe auch bildbestimmendes Element werden. Ein farbenkräftiger Schirm in tristem Regenwetter kann ein ebenso gutes Motiv abgeben wie die grüne „Ente“, das beliebte Auto der Siebzigerjahre, vor einer roten Wand. Und dann bin ich auch bei Linien, Streifen, Flächen und anderen symmetrischen Formen. Immer wieder gern gesehen sind Schilder oder Schriftzüge, die in der richtigen Bildkomposition zu einem Paradoxon werden können und so kleine Geschichten erzählen.

Ich habe auf Workshops und auf Publikationen verwiesen, die helfen, ein Gefühl für Bildmotive zu bekommen. Aber auch Ausstellungen oder Bilderplattformen im Internet können probate Mittel sein, Motivideen zu sammeln. Ein treibendes Mittel der Kunst ist schon seit jeher die Kopie. Gefallen einem Fotografen bestimmte Aufnahmen besonders gut, wird er diese  gerne nachfotografieren. Die Kunst liegt dann allerdings darin, Motive weiterzuentwickeln und Bildern einen eigenen, persönlichen Stempel aufzudrücken.

Besonders wichtig für alle Fotografen ist daher meines Erachtens auch die Sehschule: Dinge erkennen, Szenen analysieren und schauen, wo sich was ergeben könnte ist elementar für die Entwicklung als Straßenfotograf, denn Bilder entstehen oft in Sekundenbruchteilen.

Auch wenn viele Traditionalisten gern zu analogen Kameras greifen, halte ich Digitalkameras  für perfekt, wenn es um Straßenfotografie geht. Üben, üben, üben und viele Fotos machen, diese analysieren und daraus lernen – nur so kommt man zu besseren Bildern. Und das ist am einfachsten und preiswertesten mit Digitalkameras.

So kommen wir dann auch wieder zum Sammeln mit der Kamera. Ich fotografiere dank Digitaltechnik viel fürs Archiv. Jeder von uns hat schon mal verlorene Handschuhe herumliegen sehen. Bei mir schlägt sofort der Trigger auf Handschuh an, wenn ich einen irgendwo auch nur zufällig entdecke – man mag nicht glauben, wie viele Handschuhe auf der Straße herumliegen. Andere fotografieren Turnschuhe bestimmter Hersteller, die dann in den verschiedenen Farben in der richtigen Umgebung eine nette Sammlung ergeben können, wieder andere suchen Schirme und bei manchen Fotografen springt der Trigger ganz aktuell beim Anblick von Gesichtsmasken an, die im Moment allgegenwärtig sind.

Wenn ich den Sammler beschreibe, will ich aber auch den Jäger nicht unerwähnt lassen. Diese Typen von Straßenfotografen durchstreifen ihr Jagdgebiet. Überall, wo viele Menschen sind, finden sie ihre Motive. Rund um Bahnhöfe, auf Veranstaltungen oder in Innenstädten kommen immer gute Motive vor die Linse. Und schließlich ist da noch der Fischer. Mancher von ihnen hat eine bestimmte Szenerie als „sein“ Motiv entdeckt und gedanklich schon gestaltet, er wartet nur noch auf das Tüpfelchen auf dem i, also die bildausmachende Zutat, die das Motiv vervollständigt. . Ob einem der Fang des Tages gelingt, weiß man am Anfang nie, das hängt auch von der persönlichen Tagesform ab.

Aber egal, ob Sammler, Fischer oder Jäger – alle diese Fotografen nutzen ihre Werkzeuge, um in der Tradition der Streetphotography Zeitdokumente zu sammeln. Gehen Sie doch auch mal raus auf die Straße und entdecken, was für ein Typ Sie sind.