„Bleib mir bloß weg mit deiner ollen Straßenfotografie …“, höre ich immer wieder mal. Oft zeigen aber die gleichen Leute  mit Vorliebe wunderbare Urlaubsfotos mit landestypischen Szenen vom Straßenleben klassischer Reisedestinationen wie beispielsweise Straßenbahnen in Lissabon, Yellow Cabs in New York, taubenfütternde Menschen auf dem Markusplatz oder dem Trafalgar Square. Also viel mehr Straßenfotografie geht nicht.

von Wolfgang Baus

© Fotos Wolfgang Baus

Es gibt im Genre Streetphotography verschiedene Motivwelten und auch unterschiedliche Fotografentypen. Ich unterscheide bei Straßenfotografen zwischen Sammlern, Anglern und Jägern, die aufmerksam durch die Welt gehen und Motive aufspüren, die sonst nur von geübten Fotografen entdeckt werden. Oft wirken diese zunächst banal und werden erst beim genaueren Hingucken und bei veränderter Perspektive zu einem guten Bild.

Fototyp Sammler

Für den einen oder anderen gar nicht so typisch für Straßenfotografen sind die Sammler. Diese sind immer wieder auf der Suche nach Spuren, die Menschen hinterlassen haben. Strukturen in der Architektur, Pictogramme auf den Straßen oder Installationen, um nur einige Beispiele zu nennen, bieten eine Vielzahl von Motiven. Sie können aber auch die Geschichte, an die wir noch lange denken – beispielsweise die aktuelle Corona Pandemie ––, mitschreiben beziehungsweise dokumentieren.

 

Egal ob achtlos weggeworfene oder mit besonders lustigen Motiven versehene Gesichtsmasken, Hinweisschilder in den verschiedensten Gestaltungsformen oder ganz einfach Markierungen, die unser Zusammenleben regeln sollen, ergeben – sinnvoll zusammengestellt – interessante Collagen.

Auch eins meiner Lieblingsthemen – Schaufensterpuppen – wird durch dieses aktuelle Thema beeinflusst. Die in den Schaufenstern dekorierten Puppen sind ein Abbild der Gesellschaft, und als ein Spiegelbild der aktuellen Modeerscheinungen ebenfalls ein interessantes Motiv.

Der Anspruch an die Technik ist bei dieser Art der Fotografie eher gering. Eine Kamera oder ein Smartphone, das immer griffbereit ist, reicht völlig aus. Interessant werden solche Aufnahmen aber oft eher durch das Herumspielen mit der Blende und der Zeit. Wie wir ja alle wissen, lässt eine große Blende den Hintergrund eher verschwimmen als eine kleine Blende. Gerade wenn das Auge des Betrachters auf ein bestimmtes Bilddetail gelenkt werden soll, kann die Blickführung auf den Bildern so beeinflusst werden. Und bei statischen Motiven mit Linien oder anderen symmetrischen Elementen kann man ja mal versuchen, während einer längeren Verschlusszeit die Aufnahme durch eine Kamerabewegung gezielt zu verwischen.

Als Training für den Einstieg halte ich diese Motive für einen sehr guten Anfang. Ohne den Stress von bewegten Motiven und Schnappschuss-Situationen erhält nicht nur der Neuling ein Gefühl für Kompositionen und kann sehr gut sein Auge trainieren, um entsprechende Motive zu finden und festzuhalten.

Fototyp Jäger

Die interessanteren Bilder entstehen aber oft erst durch Menschen oder Tiere. Hier treffen wir dann den Straßenfotografen vom Typ Jäger, der sein Jagdgebiet durchstreift und nach speziellen Situationen sucht, die sich oft durch Zufall ergeben. Bahnhöfe, Innenstädte und andere Orte, an denen Menschen anzutreffen sind, bieten beste Voraussetzung für ein gutes Jagdergebnis. Mal ist es der vom Winde verwehte Hut, dem der Besitzer hinterher läuft, mal ist es die Szene am Rande einer Demonstration oder die Möwe, die das Fischbrötchen raubt … und viele alltägliche Situationen auf Märkten oder in Einkaufsstraßen, die dem Betrachter ein Lächeln oder ein Erstaunen abringen.

Der Jäger kann seine Motive kaum planen. Sie kommen und gehen oft in Sekundenbruchteilen. Hier helfen nur Übung, Erfahrung und Kamerabeherrschung, um Bilder schon im Ansatz zu antizipieren und einfangen zu können. Jeder Straßenfotograf, der Bilder mit Lebewesen aufnimmt, sollte eins mit seinem Umfeld werden und lernen, zu erahnen, welche Konstellationen auf der Straße zu Bildern führen können. Paketboten mit überladenen Paketkarren, Kunden beim Weihnachtsshopping, Radfahrer, die gegen den Strom fahren oder ganz einfach der Supermarktkunde, der massenweise Klopapier nach Hause schleppt. Überall warten Motive darauf, aufgenommen zu werden.

Diese Art von Fotografie erfordert höhere Ansprüche an die Ausrüstung und die Technik. Es bleibt nicht viel Zeit, Blende, Belichtung und Schärfe einzustellen. Unterschiedliche Bildaussagen verlangen nach entsprechenden Einstellungen. Oftmals helfen hier die User-Funktionen einiger Kameras, auf denen themenspezifische Voreinstellungen abgespeichert werden können.

Eine Frage der Schärfe

Die Bild(un)schärfe ist ein wichtiges Kriterium. Sie kann Dynamik ins Bild bringen, hilft aber auch „DSGVO-neutral“ zu fotografieren, indem die Menschen im Bild unscharf abgebildet werden. Es bleibt jedem Fotografen überlassen, wie er mit dem Gesetz umgeht. Für viele Straßenporträts ist eine perfekte Schärfe jedoch unabdingbar. Auch wenn der Autofokus unserer Kameras inzwischen sehr schnell geworden ist, kann er trotz Bild- oder Gesichtserkennung nicht unbedingt die Hauptperson vom Statisten unterscheiden. Für solche Fälle sind einige Kameras mit einer „Schnappschussfunktion“ versehen. Wie bei der Ricoh GR III geht die Kamera beim schnellen Durchdrücken des Auslösers in den Fixfokusmodus über und stellt auf einen vorher eingestellten Entfernungswert ein. Im Zusammenspiel mit einer kleineren Blende ergibt sich für viele Straßenfotos ein großer und meist ausreichender Schärfebereich.

 

 

Ausrüstung für Straßenfotos

Wo wir gerade bei der Ausrüstung sind: Es gibt nicht die eine beste Kamera für diese Art der Fotografie. Auch wenn man häufig Fuji X100 Modelle, Olympus PenF, Ricoh GR III und auch M-Leica Kameras antrifft, ist der Kameratyp kein Garant für bessere Bilder. Die meisten Fotografen bevorzugen Kameras mit Weitwinkel oder Standardbrennweite. Damit sind sie dichter dran am Geschehen und an den Motiven. Dafür benötigt man oft ein wenig Mut und eine Offenheit zur Diskussion, denn diese folgt oft unweigerlich. Für viele Fotografen macht aber genau diese Kommunikation den Reiz dieser Art der Fotografie aus. Oft entstehen über Sprachbarrieren hinweg interessante Diskussionen. Auch wenn es nicht jedermanns Sache ist, aber viele Workshops beginnen genau so: „Sprich eine bestimmte Anzahl von Personen an, und frag ob du sie fotografieren darfst.“ Zwar kostet es viel Überwindung, aber Sie verlieren auf diese Weise die Angst vor einem „Nein“. Machen Sie sich bewusst: Es ist keine Ablehnung Ihrer Person, es ist der Wunsch nicht fotografiert werden zu wollen, und den sollten wir unbedingt respektieren.

Fototyp Angler

Der nächste Typ, der Angler, kann etwas entspannter an sein Projekt herangehen. Sein Fanggebiet ist meist auf einen bestimmten Raum begrenzt. Seine Bildidee ist klar umrissen und die Kulisse für sein Bild oft schon im Vorfeld erkundet. Er wartet für die Komplettierung des Bildes nur noch auf das Tüpfelchen auf dem i. Es sind Motive, bei denen der Bildaufbau nur noch den Zufall des passenden Gegenstücks braucht. Es gibt Fotografen, die sich auf Kontraste (wie Farben oder Muster) konzentrieren, andere, die mit Sonne und Schatten spielen und wieder andere, die gezielt mit natürlicher Einrahmung arbeiten. Für Angler, die ihre Bilder oft schon im Voraus planen, ist die gesetzeskonforme Fotografie nach DSGVO einfacher als für den Jäger. Elemente der Umgebung und der Bildhintergrund können so gestaltet werden, dass das Bild wirkt und die fotografierte Personen unkenntlich ist. Wie für alle Fotografen, so gilt hier in besonderem Maße, die Umgebung aufmerksam zu studieren. Achten Sie auf Schilder, Werbeplakate und all die Dinge, aus denen eine Geschichte entstehen kann.

Hier, wie generell in der Fotografie, gilt es, immer wieder mal Bilder anderer Fotografen zu studieren. Oft geben sie interessante Anregungen, die dann mit dem eigenen Stil, der eigenen Bildsprache und ständig wechselnden Motiven perfektioniert werden können. Der ein oder andere mag jetzt aufschreien und solche Art von Fotografen als Kopisten abwerten. Aber mal ganz ehrlich: Literatur, Musik und Kunst erzählen in den verschiedenen Varianten immer wieder von Schönheit, Natur, Liebe, Schmerz und Tod. Wer will es da Fotografen verwehren, Grundideen aufzugreifen und auf ihre Art zu perfektionieren?

 

Egal ob Angler, Jäger oder Sammler: Nirgends gilt das Zitat von Henri Cartier-Bresson mehr als in der Streetphotography. Denn ihm zufolge sind die ersten 10.000 Fotos die Schlechtesten. Im Unterschied zu Landschafts- oder Architekturfotografie arbeiten Straßenfotografen spontaner. Die Motive auf der Straße entstehen oft aus der Situation und sind nicht reproduzierbar. Für mich ein klarer Kontrast zu der Landschaftsfotografie, bei der ich mit Dichtefiltern durchaus auch mal bis zu fünf Minuten belichte.

Auf den Spuren der Altmeister – auf zu neuen Ufern

Auch wenn ich die Straßen- oder Dokumentarfotografen in unterschiedliche Typen einteile, vermischen sie sich oft. Es ist eine Abfolge von „Triggern“, die bei ihnen zu einem Foto führt. Es sind Auslöser, die die Aufmerksamkeit erregen und dann Stück für Stück zusammengefügt werden. Diese Trigger können trainiert und ausgebildet werden. Mit viel Übung entwickeln Fotografen ihre individuellen Auslöser. So gibt es Fotografen, die etwa auf verschiedene Farbkombinationen, auf Kontraste, spezielle Kleidung, Accessoires und vieles mehr anspringen.

Und damit bin ich dann auch wieder bei den Traditionalisten. Ihnen zufolge ist  die wahre Streetphotography Schwarz-Weiß und analog . Sorry, aber noch nie war die Digitalfotografie hilfreicher als bei diesem Genre der Fotografie. Auch wenn es Leica Kameras ohne Kontrollmonitor und mit reiner Monochrom-Aufnahmefunktion gibt, so sind diese eher die Ausnahme. Ich denke, ein erfahrener Fotograf lässt sich nicht vom Monitor ablenken und kontrolliert seine Erfolge erst, wenn er mit der Szene durch ist. Kann dann aber sofort die Aufnahme kontrollieren und hat im besten Fall die Möglichkeit, für das nächste Bild die Einstellung zu verändern.

Auch bei der Frage nach Farbe oder Schwarz-Weiß sollten wir moderne Maßstäbe anlegen. In Zeiten von Vivian Maier oder Elliot Erwitt gab es noch keine Farbfilme. Der Fotograf des 21. Jahrhunderts sollte situationsbedingt entscheiden: Wenn die Farbe keinen bildwirksamen Einfluss hat, ist Schwarz-Weiß die bessere Wahl. Aber es gibt viele Bilder, die durch Farbmuster und Kontraste erst die gewünschte Bildwirkung erzielen. Hierbei bin ich aber dann ein Freund davon, in dem Bildstil zu fotografieren, in dem ich das Bild später auch haben will.

Motive wirken schon auf dem Monitor anders, und Bilder, die man in Farbe nicht aufnehmen würde, sehen in Graustufen auf einmal ganz fotogen aus. Auch dies ist eine Begründung für die Digitalfotografie.

Aus „Filmwahl“, individuellen Einstellungen und Bearbeitungen entwickeln manche Fotografen eine persönliche Bildsprache, an der man sie von anderen unterscheiden kann. Letztlich ist Streetphotography aber Rock’n‘Roll: Die Situationen ändern sich, alles, was vorher detailliert geplant wurde, wird über den Haufen geworfen, um dann diesen einen Schuss des Tages einzufangen. Und wenn der dann unscharf wurde – nicht ärgern, weitermachen. Üben, üben, üben – 10.000 Fotos muss man erst mal im Kasten haben.