von Wolfgang Baus

© Fotos Wolfgang Baus

Unser Leben besteht aus einer enormen Vielfalt an Bildern. Kein Wunder, dass die meisten Fotografen versuchen, mit ihren Aufnahmen aus der großen Masse herauszustechen. Beliebte Mittel dafür sind grelle Farben oder eine Bildgestaltung abseits der Norm. Die Bild(un)schärfe ist ein besonders interessantes Gestaltungsmittel.

Vom Verwackeln über Bewegungsunschärfe bis hin zu Defokussierung gibt es unterschiedliche Arten von Unschärfen. In früheren Ausgaben sind wir ausführlich auf die Steuerung der Schärfe durch die Blendenwahl, also auf die Schärfentiefe, eingegangen. Die Faustregel, je kleiner die Blende, desto größer die Schärfentiefe, ist wohl jedem geläufig. Schon bei der Anschaffung von Kamera und Objektiven sollten Sie auf den Blendenbereich achten, denn je kleiner der Aufnahmesensor, desto geringer fällt auch der nutzbare Blendenbereich aus. Und auch, wenn ein Objektiv einen großen Blendenbereich bietet, sind oft die kleineren Blendenöffnungen – f/16 und f/22 – kaum nutzbar, denn die dann zunehmend auftretende Beugungsunschärfe macht die Aufnahmen weich, kontrastarm und unscharf, vermiest uns also die  Bildgestaltung. Manche Kameras bieten eine elektronische Lichtreduzierung. Diese ist aber nur ein Steuermittel der Belichtungszeit und kein Mittel, um mit Schärfe und Unschärfe zu gestalten. Wir wollen mit (Un)Schärfe gestalten, aber die Gestaltung wollen wir selbst unter Kontrolle haben  und nicht den möglichen Unzulänglichkeiten der Kameraphysik ausgesetzt sein.

Kunstgriff statt Anfängerfehler

Bleiben wir doch einmal bei der Blende und bei dem Thema Fokussierung beziehungsweise bei der Defokussierung. Ich kann mich noch an meine ersten Schritte mit einer Spiegelreflexkamera erinnern, eine Praktica aus den 70er Jahren. Mit viel Freude habe ich den ersten Film abgeknipst, dabei natürlich peinlichst auf den Belichtungsmesser geachtet, denn der war ja das kaufentscheidende Argument für diese Kamera. Nur mit der Scharfeinstellung habe ich es nicht so genau genommen. Dabei waren die Fotos an sich schon scharf, aber eben nicht dort, wo es der Betrachter erwartet hätte. Und genau das macht den Unterschied zwischen meinen Anfängerfehlern und meinem heutigen „künstlerischen Anspruch“ aus. Heute achte ich darauf, dass die Unschärfe einen Sinn ergibt. Das ist essentiell für ein gutes Bild. Durch Abstraktion wird es möglich, Motive zu fotografieren, die den Betrachter viel mehr zum Nachdenken animieren als es scharfe Bilder tun würden. Ich gehe sogar so weit, dass die gleichen Motive fein fokussiert langweilig wären. Es mag ein wenig spinnert wirken, was Künstlern ja auch gern zugestanden wird, aber ich liebe das Arbeiten mit einem Spiegelreflexsucher für eine solche Art von Aufnahmen. Die Wiedergabe ist plastischer und ich kann mir im Sucher das spätere Foto  besser vorstellen – je größer er ist, desto besser.

Mitzieher

Möglich ist auch, in die totale Unschärfe einen kleinen scharfen Bildakzent zu integrieren, was das Bild noch reizvoller macht. Sicher können solche Bilder auch sehr gut mit den diversen Filtern der Bildbearbeitungsprogramme am heimischen Computer erstellt werden, aber vielen fehlt das notwendige Bearbeitungstalent und oft wird dann aus einem Foto eine Computergrafik. Ein probates Mittel für Schärfe in der Unschärfe sind „Mitzieher“. Sie werden gern bei sich schnell bewegenden Motiven angewendet. Egal ob Motorrad, landender Flieger oder Sportler, um nur einige Beispiele zu nennen – diese Technik bringt immer Dynamik ins Bild. Perfekt sind die Aufnahmen, auf denen das Hauptmotiv scharf abgebildet wird, der Hintergrund jedoch verschwimmt. Um dies zu erreichen, gibt es keine allgemeingültige Belichtungszeit, denn der zehn Meter entfernte Fahrradfahrer bewegt sich vermeintlich schneller, als der landende oder startende Flieger in ein paar hundert Metern Entfernung. Als groben Richtwert empfehle ich die Geschwindigkeit als Belichtungszeit. Ein Motorrad mit 50 km/h würde ich bei 1/50 Sekunde als Startwert einer Belichtungsreihe aufnehmen. Hier zeigt sich einer der großen Vorteile der Digitalfotografie. Ich kann beliebig viele Bilder machen, mich dabei langsam eingrooven und an die richtige Verschlusszeit heranarbeiten.

Das Geheimnis liegt darin, dass ich dem Weg eines Motivs über einen bestimmten Bereich folge und dann so auslöse, dass der Hintergrund auch perfekt zur Aufnahme passt. Dabei schwenke ich von der Motiverfassung bis zur erfolgten Belichtung parallel zum Motiv mit. Je länger der Vorlauf, desto gleichmäßiger wird die Schwenkbewegung und umso perfekter wird die Motivschärfe. Da die Distanz zum Motiv unverändert bleibt, wird der Autofokus nicht unbedingt benötigt, aber wenn Sie ihn benutzen, stellen Sie auf Singleautofokus, keinesfalls auf Trackingmodus.Sie werden schon nach wenigen Probeaufnahmen schnell zu ansehnlichen Ergebnissen kommen. Empfehlenswert ist dabei die Serienaufnahmefunktion, um zwei bis drei Nachschüsse machen zu können. Und auf jeden Fall sollten Sie die Shake Reduction ausschalten, zumindest dann, wenn Ihre Kamera die Mitziehfunktion (Panning) nicht automatisch erkennt.

Unschärfe bei statischen Motiven

Das Gegenstück zum Mitzieher ist ein feststehendes Motiv um welches herum Bewegung ist. In der Streetfotografie wird dies gern angewendet, wenn Menschen mitten im Trubel der Umgebung abgebildet werden sollen. Ich fotografiere gern auf Rummelplätzen. Hier gibt es eine Vielzahl von Motivsituationen, in denen Menschen in Verbindung mit Karussells fotografiert werden können. Aber auch die Bewegung selber kann ein Motiv ergeben. Die Drehung der Rummelplatzattraktionen mit einer Gegenbewegung der Kamera einzufangen ergibt eine besondere Dynamik; speziell in der Dunkelheit und mit Beleuchtung ergeben sich hier tolle Lichtmalereien.

Allerdings sind wir bei der Wahl der Zeit meist begrenzt. Denn gerade bei schönem Sonnenschein kommen wir meist nicht auf die längeren Verschlusszeiten. Wir müssen hier den Lichteinlass limitieren. Hierfür nutzen wir einen Neutraldichtefilter, auch Grau- oder ND-Filter genannt. Immer, wenn wir lange Belichtungen benötigen, sind diese eine probates Mittel dafür.

Jugend forscht

Ein wenig aufwendiger sind Doppelbelichtungen. Auch hier hilft es, viel zu probieren, um zu den gewünschten Ergebnissen zu kommen. Mein Tipp in diesem Fall:  je einmal fokussiert und einmal defokussiert zu fotografieren. Für solche Aufnahmen eignen sich eher statische Motive, also solche, die sich nicht selbst bewegen. Basierend auf der ersten scharfen Aufnahme kann dann auch mit Kamerabewegung die Zusatzbelichtung erfolgen.

Im Normalfall halten wir die Kamera möglichst ruhig, aber ein Kameraschwenk während der Aufnahme führt zu interessanten Bildkompositionen. Wie schon erwähnt, müssen wir lediglich für eine lange Belichtungszeit sorgen und können während der Aufnahme die Kamera bewegen. Nutzen Sie die natürliche Form des Motivs. Es sieht harmonischer aus, wenn Sie beispielsweise bei einem Baum von unten nach oben schwenken oder ein Auto in der horizontalen Bewegung aufnehmen. Drehen Sie die Kamera doch auch mal um die optische Achse. Jeder von uns kennt die Motive von Baumkronen, die wir von unten aufnehmen. Drehen Sie sich während der Aufnahme – die Bilder werden Sie begeistern und viele Betrachter nach der Technik fragen lassen. Auch hier ist probieren angesagt. Es gibt nämlich keine allgemeingültige Regel. Empfehlenswert ist es allerdings, dass Sie beim Hauptteil Ihres Motivs für Bruchteile der Belichtung verweilen. Die Belichtung an dieser Stelle erfolgt länger und der Teil des Bildes wird detaillierter abgebildet. Hier hilft nur üben, üben, üben – die Ergebnisse lohnen den Aufwand.

Alles im Fluss

Die einen mögen sie, die anderen eher nicht: Fotografien, in denen Bewegungen fließend oder verwaschendargestellt werden. Gewässer oder Wolken bringen immer wieder eine besondere Stimmung in die Bilder, wenn diese sich während der Aufnahme bewegen. Dabei werden diese Motive bei langer Verschlusszeit so abgebildet, dass sie regelrecht verschwimmen. Flüsse, Wasserfälle, Brandungen oder Sandverwehungen bei Sturm am Strand mit schnellem Wolkenzug sind typische Motive. Wenn diese dann ganz reduziert und eventuell auch noch in schwarz-weiß aufgenommen werden, ergibt das oft sehr eindrucksvolle Lichtbilder.

Zum Schluss wollen wir den guten, alten Zoomeffekt hervorkramen. Hierbei wird während der Belichtung am Zoomring gedreht. Auch diese Technik ist im Prinzip ganz einfach und problemlos nutzbar. Und auch hier trifft es zu – wie bei allen anderen Tipps: ausprobieren. Nicht immer führt eine längere Verschlusszeit auch zu eindrucksvolleren Fotos, und nicht immer liegt die Würze in der Kürze.

Auf jeden Fall sollten Sie die verschiedenen Techniken auch mal kombinieren. Erwarten Sie nicht gleich am Anfang den großen Schuss. Machen Sie sich bewusst:  Jede misslungene Aufnahme bringt Sie dem Meisterstück ein wenig näher.