Lost Places sind immer wieder gern besuchte Fotolocations – weil sie besonders spannende Motive liefern und obendrein einen geheimnisvollen, mystischen Charme ausstrahlen. Denis Gebhardt hat es zu seiner Aufgabe gemacht, genau diese Atmosphäre einzufangen.

von Paul Schulz, © Fotos Denis Gebhardt

Ein Farn ragt durch die ausgebleichten Gasmasken auf dem Boden einer verlassenen Kaserne. Nur für ein paar Stunden am Tag dringen einige Sonnenstrahlen durch das Fenster des dunklen Dachbodens. Licht und Finsternis, Leben und Tod – dieser Kontrast findet sich in Denis Gebhardts Bildern immer wieder. Für die Lost-Place-Fotografie gar nicht so ungewöhnlich. Allerdings geht Gebhardt dabei einen anderen Weg als viele andere Fotografen.

Die Kunst der Reduktion

„Ich bin einfach niemand, der alles auf dem Foto haben möchte. Ich habe zwar ganz klassisch mit HDR-Fotos angefangen, habe aber schnell gemerkt: Das ist nichts für mich.“ Denn an den Orten, an denen Gebhardt fotografiert, ist es vor allem eins: dunkel. Den dadurch entstehenden mystischen Charme möchte er nicht durch den typischen hohen Detailreichtum von HDR-Fotos, welche oft in der Lost-Place-Fotografie zu finden sind, auslöschen. „Ich versuche, den Blick der Betrachter ganz gezielt auf etwas zu lenken“, sagt Gebhardt. Zu viele Details im Bild würden dabei stören.

Besonders das Licht spielt für ihn bei der Bildgestaltung deswegen eine entscheidende Rolle. Der 31-Jährige benutzt, anders als viele andere Lost-Place-Fotografen, keine künstlichen Lichtquellen wie Taschenlampen oder Blitze, um Räume auszuleuchten, sondern fotografiert ausschließlich mit dem „Available Light“, also dem Sonnenlicht, das sich häufig nur durch kleine Löcher oder blinde Fenster in die Innenräume kämpft. Um den ISO-Wert dabei so niedrig wie möglich zu halten, stellt Gebhardt seine Kamera häufiger auf ein Stativ und belichtet seine Motive für mehrere Sekunden. Dadurch gelingt es ihm, die düstere Stimmung der Lost Places mit seinen Bildern fühlbar zu machen. Manche Stellen an den verlassenen Orten, werden, so Gebhardt, eben nicht mehr vom Licht berührt. Daher gehöre die verbleibende Dunkelheit an diesen Orten eben dazu.

Diese Art der Lost-Place-Fotografie, scheint auf den ersten Blick einschränkend zu sein, zumal das spärliche Licht einen klar definierten Bildaufbau vorgibt. Dadurch finden sich in Gebhardts Fotos jedoch immer eindeutige Subjekte. Nur Menschen sind nie auf seinen Bildern zu sehen. „Lost-Place-Fotografie ist fast so etwas wie Nachweltfotografie. Viel interessanter als Menschen und Models an diesen Orten finde ich die Frage: Was wäre, wenn der Mensch jetzt aus der Welt verschwinden würde?“ Fast schon postapokalyptisch wirken die Bilder deshalb.

Die alten verlassenen Fabrikgebäude, in denen früher Hunderte Menschen gearbeitet haben, oder die Familienhäuser, in denen noch ein gedeckter Tisch steht, lassen Gebhardt immer wieder fantasieren: „Wer hat hier früher mal den Telefonhörer abgehoben? Wie geht es dem Menschen, der hier gefrühstückt hat, heute? Hat er einen neuen Job gefunden? So etwas fragt man sich natürlich an solchen Orten.“ Ihn würden diese Plätze vor allem zum Nachdenken anregen. „Aber all diese Eindrücke überladen ein Bild. Ich möchte den Blick auf das Wesentliche lenken.“ Besonders das Fehlen von Menschen in seinen Aufnahmen, rege überhaupt dazu an, über die Menschheit nachzudenken und über das, was wir zurücklassen. Das Leben findet sich dann nur noch in Gebhardts Lieblingsmotiv: Pflanzen.

Denis Gebhardt

Denis Gebhardt (31) beschäftigt sich seit 2018 mit der Fotografie und seiner Kamera. Seine liebsten Motive sind verlassene Orte und Gebäude. Dabei versucht er, auf seinen Touren die Atmosphäre und die Seele der verlassenen Orte einzufangen. Instagram: @urbex_photos_by_blackbird

Pflanzen erobern die Orte

Ein kleiner Baum, der einsam im Treppenhaus eines Bürogebäudes steht. Oder Moosflechten, die es sich auf Sitzen von verlassenen Oldtimern „bequem gemacht“ haben. Auf seinen Touren durch verlassene Gebäude und Fabriken sucht Gebhardt inzwischen gezielt nach genau diesen Motiven. „Ich lasse die Orte immer erst einmal auf mich wirken und gehe durch die Räume. Ich weiß inzwischen ziemlich genau, wonach ich suche. Meistens sind das eben die Pflanzen, die sich diese Orte zurückerobern.“ Das Grün in den Pflanzen bildet dann den Gegenpol zu den häufig rostig-orangefarbenen Überresten in den Lost Places. Wie schnell die Natur sich diese Orte von den Menschen zurückholt, fasziniert Gebhardt dabei immer wieder aufs Neue: „Ein Spagat zwischen Leben und Tod.“

Spiel mit Farben

Das Color Grading der Bilder ist charakteristisch für Gebhardts Fotografien – der Kontrast zwischen dem rostigen Rot-Orange der Materie und dem saftigen Grün der Pflanzen. Vignetten und Verlaufsfilter, die er nachträglich in die Bilder einfügt, lenken zusätzlich den Blick des Betrachtenden. Seltener dagegen greift er auf Korrekturen mit Photoshop zurück. „Bei dem Foto mit den Farnen an den Messinstrumenten musste ich besonders viel retuschieren. Die Graffiti-Tags, die die Steuerinstrumente überzogen, lenkten vom eigentlichen Subjekt, den Farnen, ab.“ Die meisten Graffitis gehören für ihn allerdings eindeutig zu den Lost Places und schaffen es auch häufiger auf seine Bilder: „Das Wichtige an den Graffitis ist, dass sie mit der Wirkung der Lost Places harmonieren müssen und einige der Sprayer schaffen es sehr gut, diese Wirkung einzufangen.“

Vom Handy zur Kamera

Seit 2018 fotografiert Gebhardt inzwischen verlassene Orte. Angefangen hat seine Begeisterung mit einem Kurz­ausflug in eine ehemalige Porzellan­fabrik. „Die Fotografie war natürlich von Anfang an dabei. Damals habe ich hauptsächlich mit dem Handy rumgeknipst und dabei den Hintergedanken gehabt, das Gesehene in Erinnerung zu halten.“ Doch als er zu Hause am Schreibtisch saß und sich die Bilder nochmal anschaute, war er enttäuscht: „Vieles war verwackelt oder durch den hohen ISO-Wert vergrieselt.“ Danach habe er angefangen, sich intensiver mit seiner DSLR auseinanderzusetzen – und nach Orten gesucht, um das Gelernte auszuprobieren.

Für viele Lost-Place-Fotografen ist die Locationsuche ein Kernbestandteil der Fotos. Eine einfache Lösung gibt es dabei nicht. Oft hüten die Fotografen ihre Locations wie kleine Schätze. Nicht ohne Grund: „Besonders den sehr bekannten Lost Places kann man kaum noch etwas von ihrem ehemaligen Charme abgewinnen. Teilweise wurden sie zerstört oder komplett geplündert. Die buchbaren Lost Places dagegen sind mir meistens zu aufgeräumt.“ Besonders die Sozialen Medien seien bei der Locationsuche sowohl Fluch als auch Segen. „Natürlich findet man auch in den öffentlichen Facebook-Gruppen interessante Locations, aber die sehr bekannten Orte sind den Besuch manchmal schon nicht mehr wert.“ Neben den Sozialen Medien wie Facebook und Instagram kann es allerdings auch helfen, seine Umgebung über die Satellitenbilder auf Google Maps zu erkunden. Wild überwachsende Häuser sind oftmals einen Besuch wert. Man muss allerdings bedenken, dass die Satellitenbilder häufig schon ein paar Jahre alt sind – nicht alles, was darauf zu sehen ist, ist auch noch da. Da Gebhardt viel mit dem Auto unterwegs ist, entdeckt er häufig auch potenzielle Locations am Straßenrand: „Da man seinen Standort auf Google Maps auch speichern kann, habe ich inzwischen eine Liste angelegt mit den Orten, die ich noch erkunden möchte.“ Auch Freunde, die wissen, dass er gerne verlassene Plätze fotografiert, melden sich immer wieder mit Tipps.

An die Orte geht Gebhardt dann meistens mit einer Freundin. „Natürlich ist das Ganze auch nicht immer ganz sicher.“ Marode Dächer und offene Schachtabdeckungen lassen ihn oft darüber nachdenken, was er für eine Aufnahme riskieren möchte. „Sich schwer zu verletzen, das ist wirklich kein Foto wert. Deswegen versuche ich, möglichst die Augen für Gefahren offen zu halten.“ Insbesondere industrielle Gebäude oder Bunkeranlagen sind oft mehrstöckig oder komplex verzweigt. Alte Stahlbauten, die stabil aussehen, können in der Substanz schon durchgerostet sein. Im Notfall käme der Rettungsdienst häufig nicht gut auf die entlegenen Unfallorte. „Einige Locations sind schon gefährlich, deswegen ist es besser, zweimal darüber nachzudenken, ob sich ein Motiv wirklich lohnt. Außerdem ist es wichtig, vorbereitet zu sein.“ Festes Schuhwerk, eine lange Hose, ein Erste-Hilfe-Set und eine Taschenlampe gehören für ihn genauso zur Grundausrüstung als Fotograf wie seine Kamera, sein Objektiv und sein Stativ. „Außerdem sollte man immer mindestens zu zweit unterwegs sein, damit im Notfall jemand da ist, um Hilfe zu holen. Am besten fotografiert diese Person aber auch, damit man nicht durch die Location hetzt, sondern sich Zeit nehmen kann.“

Dass seine Fotos häufig nicht ganz legal entstehen, ist Gebhardt bewusst. „Das Betreten der Gebäude ist immer eine rechtliche Grauzone.“ Da die Grundstücke meistens noch jemandem gehören, fällt das Betreten unter „Hausfriedensbruch“. Laut Paragraf 123 Strafgesetzbuch wird dies mit Geldstrafen oder einer bis zu einjährigen Haftstrafe geahndet. Allerdings ist auch eine Anklage an bestimmte Bedingungen geknüpft. Laut Rechtsanwalt Nicolas Reiser muss ein dem Fotografen entgegenstehender Wille erkennbar sein. Das heißt: Wenn keine „Betreten verboten“ Schilder oder eine Umzäunung ein Betreten des verlassenen Gebäudes oder des Grundstücks untersagen, kann von keiner Vorsätzlichkeit des Handelns ausgegangen werden – eine Strafbarkeit wäre somit ausgeschlossen. Um allerdings auf der sicheren Seite zu sein, hilft es häufig, den Besitzer einfach über die Fotopläne zu informieren oder an geführten Fototouren teilzunehmen. „Der Hauptleitspruch der Lost-Place-Fotografie kommt allerdings aus dem Englischen: ‚Take nothing but pictures, leave nothing but footprints.‘ Die Orte sollten so unberührt bleiben, wie möglich.“ Zum einen ist man damit rechtlich auf der sicheren Seite, zum anderen entstehen so auch die besten Fotomotive.