Von der Biologin zur Künstlerin

Bei uns Freizeitfotografen steht der Spaß am Bild meist im Vordergrund. Es liegt uns fern, aus der Fotografie eine Wissenschaft zu machen. Auch künstlerische Ambitionen haben viele von uns nicht unbedingt. Aber dass Freude an der Fotografie, Wissenschaft und Kunst sich nicht gegenseitig ausschließen, zeigt der Weg der Wissenschaftlerin und Fotografin Dr. rer. nat. habil. Pia Parolin.

von Wolfgang Baus © Fotos Pia Parolin

Der fotografische Werdegang von der in Italien aufgewachsenen Pia Parolin unterscheidet sich in vielelerlei Hinsicht nicht von dem anderer Fotografen. Sie begann ihre fotografische Karriere im Alter von neun Jahren, als sie ihre erste Minolta Spiegelreflexkamera geschenkt bekam. Ihr Vater, ein technisch versierter Schiffsmotoren-Ingenieur, erklärte ihr nicht nur technische Funktionen und Zusammenhänge, sondern brachte der kleinen Pia auch die wichtigsten Grundregeln der Fotografie bei, um gute Bilder zu bekommen: gerader Horizont, goldener Schnitt, Beine nicht abschneiden, Schärfe auf das Motiv. Diese und noch ein paar weitere Ratschläge haben bewirkt, dass Pia schon früh kleine Erfolge in Form ansehnlicher Fotos hatte. Ein wenig hat dazu wahrscheinlich auch der engagierte Kunstunterricht beigetragen, der im Kindergarten begann und in der Schule auf hohem Niveau fortgesetzt wurde. Auch wenn Fotografie dort nur eine untergeordnete Rolle spielte, lernte Pia viel über Farben, Dimensionen oder Perspektiven. Dies alles interessierte sie so sehr, dass sie seit ihrer Kindheit viele Ausstellungen und Museen besuchte und immer wieder neue Eindrücke rund um die Kunst sammelte.

Verbindung der Leidenschaften

Obwohl Pia Parolin immer sehr kunstinteressiert war, studierte sie Biologie in Bielefeld, Manaus und Hamburg, wo sie schließlich am Max-Planck-Institut promovierte und sich habilitierte. Für ihre Forschungen zog es sie schwerpunktmäßig nach Südamerika, vornehmlich an den Amazonas – eine Region, die sie bis heute interessiert und fasziniert und in die sie oft reist. Überhaupt ist Reisen, neben ihren Studien, der Kunst und Fotografie eine weitere große Leidenschaft. Und es gelingt ihr immer wieder, dies alles zu verbinden.

Während des Studiums belegte sie mehrere Seminare zur Projektdokumentation. Die Kamera war ihr ständiger Begleiter und immer dabei. In dieser Zeit wurde wahrscheinlich auch der Grundstein für ihre lockere Haltung zur Kamera gelegt. Behandeln viele Fotografen den Fotoapparat eher wie ein kostbares Schmuckstück, ist die Kamera für Pia Parolin eher ein Gebrauchsgegenstand, der in ihre Tasche passen und selbst in der Tropenfeuchtigkeit schlichtweg funktionieren muss. Dank der technischen Grundausbildung durch ihren Vater kann sie ihre Kamera im Schlaf bedienen. Diese Selbstverständlichkeit bei der Nutzung und die Beherrschung der Kamera sind wichtige Eigenschaften, die ihr bei ihrer Art der Fotografie besonders zugute kommen.

Kunstinteresse als Basis für gute Fotografie

Trotz der beruflichen und familiären Veränderungen in der Folgezeit blieb das Interesse anKunst jeder Richtung erhalten. In Ausstellungen sammelte Pia Parolin Eindrücke und entdeckte, wie Künstler mit Farben, Formen und Raum umgehen und damit gestalten. Für sie selbst avancierte die Fotografie immer mehr zu ihrem Medium, um sich künstlerisch auszudrücken. Freiräume nutzte die in Nizza lebende Wissenschaftlerin für Ausflüge an die nahegelegene Strandpromenade. Bei diesen Foto-Exkursionen entstanden erste Bilder von Passanten – dankbare Motive für ihre beginnende Leidenschaft, die Streetfotografie.

Fotografie als Statement für das Leben

Der terroristische Anschlag am Französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli 2016, bei dem viele Menschen getötet oder verletzt wurden, weckte in Pia den großen Wunsch und Trotz, sich gegen die Folgen des Terrorismus zu stemmen. Sie wollte es nicht akzeptieren, dass Angst und Terroristen unsere Gesellschaft beherrschen und unsere Freiheit und Freude am Leben zerstören. Und so arbeitete sie in der Folgezeit verstärkt an ihrer Fotoserie „Promenade Moments“. Hiermit wollte sie den Bewohnern Nizzas Farbe und Licht vermitteln, Mut und Freude geben. Auch wenn sie mit ihren Bildern das Trauma vieler Menschen nicht beenden konnte, so schenkte sie mit ihren ersten Ausstellungen den Menschen rund um Nizza ein paar glückliche Momente.

Geplante Serien

Diese Bilder sind nicht etwa durch Zufall entstanden, sondern waren das Ergebnis ihrer Planung. Hier zeigte es sich, dass sie auch bei ihrer Fotografie wie eine Wissenschaftlerin vorgeht. Die Bilder entstanden zwar aufgrund zufälliger Situationen, aber absolut überlegt und geplant. Sie dachte schon früh in Serien, bei denen unbedingt der Seriencharakter erkennbar sein sollte. Wiederkehrende Faktoren, wie die kräftigen Farben, das Blau des Himmels und des Meeres oder die Farben der Kleidungsstücke von Passanten sind wichtige Bestandteile ihrer Bildgestaltung. Bei der Farbgebung zeigt sich möglicherweise der Einfluss ihrer Museumsbesuche: Dort hatten sie immer wieder die besonders farbenprächtigen Kunstwerke fasziniert.

Ein weiteres Element ihrer Bilder sind Menschen, die oft durch eine geplante Bewegungsunschärfe eine Dynamik in die Fotos bringen. Für diesen Effekt montiert Pia die Kamera auf ein Stativ und belichtet mit langen Verschlusszeiten. Mit der daraus resultierenden Unschärfe umgeht sie dann auch das Problem der Erkennbarkeit der abgebildeten Personen.

Bewusst gesteuerte Bildwirkungen

Ein weiterer wichtiger Punkt für Pia ist es, die Bilder nicht mit zu vielen Elementen zu überladen. Auch dies ist eine Lehre, die sie aus vielen Museumsbesuchen gezogen hat. Viele Maler beschränken sich auf bildwichtige Details und schaffen einen einfachen Bildaufbau.

Sehr gut erkennbar ist an ihren Fotos auch, welche Wirkung die Position auf die Bildwirkung hat: Was passiert bei erhöhter Aufnahmeposition? Wie wirken die Bilder von der Promenade, wenn man die Kamera auf ein kniehohes Stativ setzt? Es gilt, durch die Position der Kamera die Bildwirkung zu verstärken und unwichtige oder störende Details auszublenden, wie beispielsweise das wuselige Strandleben vor der Promenade, um schließlich eine Aufnahme aus nur wenigen, aber dafür den wichtigsten Bildelementen zu erhalten.

Bestätigung macht Mut

Es sind wohl die Einfachheit und die besonders knalligen Farben, die in der ersten Ausstellung von Pia Parolin die Besucher faszinierten und bis heute beeindrucken. Durch ihre Inszenierung gelang es ihr, die Freude und den Spaß am Leben zu zeigen.Das erklärt den noch heute anhaltenden Erfolg dieser Bilder.

Dieser Erfolg machte ihr Mut. In der Folgezeit nahm die Fotografie einen immer größeren Teil ihres Lebens ein. Anfangs scheute sie sich, den Beruf als Biologin komplett aufzugeben, und reduzierte zunächst diese Tätigkeit, um sich deutlich intensiver mit der Fotografie zu beschäftigen. Nachdem sie jedoch eine ansehnliche Zahl ihrer Fotos verkauft hatte, wurde sie hauptberuflich Fotografin, gibt seitdem Workshops und ist erfolgreiche Buchautorin.

Erkenntnisse und Erfahrungen weitergeben

Durch ihre wissenschaftlichen Tätigkeiten ist Schreiben für Pia Parolin nichts Neues und neben der Fotografie eine weitere große Leidenschaft. So entstand auch ihr Buch „Flow – Fotografieren als Glückserlebnis“. Jeder, der Pia kennenlernt, ist schnell von ihrer guten Laune beeindruckt und lässt sich von ihr mitreißen. Und genau darum geht es in diesem Buch. Gemäß dem Untertitel – „Glücklich fotografieren und fotografierend glücklich werden“ – erklärt sie zum Teil auf wissenschaftlichen Grundlagen basierend, wie jeder seine Fotografie voranbringen kann und dabei Glücksmomente erlebt.

Kaum war das erste Werk erschienen, hatte sie die Idee zu ihrem neuen Buch „Entwickle deine Fotografie“ schon im Kopf. Auch hierin beschreibt sie viele wissenschaftlich geprägte Ansätze, mit deren Hilfe der Leser seine eigene Fotografie weiterentwickeln und verbessern kann.

Botschaften in Serie

Zwar ist die Streetfotografie der rote Faden von Pias fotografischer Tätigkeit. Dennoch entstehen immer wieder Serien, in denen sie Position bezieht und auf Missstände hinweist. Dies geschieht nicht etwa mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern in der ihr eigenen Art durch bunte und poppige Bilder, die den Betrachter abholen und aufmerksam machen sollen. Zwei Serien seien hier besonders hervorgehoben: „#plastic.habit“ und „Aluminium slaves“. Für #plastic.habit sammelte sie Plastikmüll an den Stränden, reinigte diesen und fotografierte ihn vor einem sehr farbenfrohen, knalligen Hintergrund. Sie zeigt damit auf positive und freundliche Art, wie unsere Lebensgewohnheiten zu einer Belastung für die Umwelt werden.

Auf die Idee zu der Serie „Aluminium slaves“ kam sie während einer Reise durch Madagaskar. Dort entdecktesie kleine, aus Aluminium gefertigte „Kunstwerke“, die Touristen als Souvenirs angeboten wurden. Aus Neugierde schaute sie hinter die Kulissen der Produktion: Was viele Touristen für traditionelle und romantische Handwerkskunst halten, wird tatsächlich unter widrigsten Bedingungen  ujnd unter großen gesundheitlichen Belastungen von den dort lebenden Menschen hergestellt.

Gute Voraussetzungen für Fotos

Die Serien von Pia Parolin zeigen, was ihr Erfolgsrezept ist: Die besten Serien entstehen, wenn man Interesse an der Materie, Zeit und Gelegenheit hat, beliebig oft an den Schauplatz zurückzukommen.

Auch viele ihrer Streetfotos entstehen über einen großen Zeitraum. Da sie zuvor Ideen und Konzepte entwickelt hat, fügen sich die Bilder wie Mosaiksteine eins an das andere.

Inspiration zieht Pia Parolin aus den unterschiedlichsten Quellen: Sie sammelt Eindrücke, liest sehr viel und tauscht sich mit anderen Fotografen aus. Neben den persönlichen Treffen sind auch Podcasts für sie immer eine wichtige Quelle für Inspiration. Sie sagt, dass sie kein allzu großes Talent zum Fotografieren habe. Aber es sei die Neugier gewesen, Neues zu entdecken, die sie dazu angetrieben habe, sich immer weiter in die Materie einzuarbeiten und mit wissenschaftlicher Präzision zu vollenden. Viel lesen, viel ausprobieren, viel Erfahrungen sammeln, sind die Grundlagen für den Erfolg von Pia Parolin, die damit zeigt, dass man es durch Forschung durchaus von der Wissenschaftlerin zu einer anerkannten Künstlerin schaffen kann.

Zur Person

Pia Parolin ist in Italien aufgewachsen. Schon während des Studiums führten internationale Projekte sie in fremde Länder, vornehmlich in den Amazonas. Heute lebt sie schwerpunktmäßig in Frankreich und Deutschland. Auch wenn sie noch vereinzelt Projekte als Biologin durchführt, ist sie hauptsächlich als Fotografin, Autorin und Workshopleiterin tätig. Außerdem stellt sie ihre Bilder auf zahlreichen Ausstellungen aus. Pia Parolin setzt sich in verschiedenen Organisationen aktiv für die Förderung der Fotografie ein und dafür,  dass die Bedeutung von Frauen in der Fotografie mehr Ankernennung erfährt.

KASTEN AUSRÜSTUNG

  • Olympus OM-D EM5II
  • Fujifilm X100F
  • Ricoh GR III
  • iPhone 11 Pro

Gute Planung für Inspiration und Erfolg

Jeder von uns kennt diese Situationen, in der er nicht so richtig weiß, wie seine fotografische Zukunft aussehen soll. Die Bilderfolge stagnieren, neue Ansätze sind nicht in Sicht. Dann ist die beste Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen und nochmals ganz neu anzufangen. Doch bevor es mit der Kamera rausgeht, ist die Vorbereitung ein wichtiger Teil der erfolgreichen Fotografie.

Denn natürlich entstehen eine Menge Bilder spontan aus der Situation, Lust und Intuition heraus. Man lässt sich treiben und schaut, was einem vor die Linse kommt. Aber ohne eine Grundlage oder eine gute Idee, wird man die wirklichen Motive nicht erkennen können und dreht sich schnell im Kreis. Hilfreich ist es, anhand von W-Fragen eine Idee zu entwickeln oder ein Konzept zu erarbeiten. Wer sich selber vor dem Fotografieren über das Warum, Was, Wann, Weshalb und Wo im Klaren ist, dies vielleicht sogar für sich einmal niederschreibt, hat einen deutlichen Schritt nach vorn in der konzeptionellen Fotografie getan. Für Pia Parolin waren solche Notizen immer wieder wichtig, um ihre Fotografie weiterzuentwickeln und zu verbessern.

Auch die Zeit spielt eine wichtige Rolle. Je mehr Ruhe man für die Fotografie hat, desto zuträglicher ist es für die Entwicklung von Ideen und schlussendlich für die Qualität des einzelnen Bildes und des Projektes. Jeder von uns kennt diesen zaghaften Beginn eines Fototages, in dessen Verlauf  man merkt, wie man sich langsam in die Fotografie hineinsteigert und in den Flow gerät – vorausgesetzt man hat Zeit und Muße.