Delhi ist eine Stadt, die man in „alt“ und „neu“ unterteilt. Neu-Delhi ist die Hauptstadt Indiens mit breiten Alleen und prunkvollen Gebäuden – und Old Delhi eine ganz andere Welt.

von Jamari Lior

Jedes Mal, wenn ich am „Indian Institute of Photography“ in Noida nahe Delhi unterrichte, ist ein Ausflug nach Old Delhi, genauer Chandini Chowk obligatorisch. Mit der modernen, sauberen U-Bahn geht es ins Getümmel: Eine bunte, staubige Gegend mit unzähligen engen Gassen und kleinen Läden. Stellenweise kann man nur mit einer Fahrradrikshaw oder zu Fuß vorwärtskommen und gerade vor Feiertage schiebt man sich durch die Sträßchen in einem kollektiven Kaufrausch. Als Fotograf ist es durchaus nicht einfach, sich zu entscheiden: Man könnte fantastische Requisiten für die inszenierte Menschenfotografie erwerben, Stoffe, Applikationen und Dekorationsmaterial. Und man könnte leckeren Lassi genießen und fantastisches Streetfood essen – es gibt also jede Menge Distraktionen.

Aber wir sind ja nicht zum Vergnügen da. Meine Studierenden erhalten stets Aufgaben, was sie fotografieren sollen, eine Struktur, ein  Porträt, ein Bild, das das Gefühl „Old Delhi“ einfangen soll, ein Bild, das in Schwarz-Weiß gut funktioniert. Dann strömen die Studierenden in unterschiedliche Richtungen aus – und ich muss mich denselben Aufgaben stellen.

In einem Hinterhof in einer kleinen Gasse kann man es sich wunderbar im Schatten und in der Ruhe bequem machen.

„Spice Market?“, sobald ein Rikshaw-Fahrer einen Westler sieht, fragt er „Spice Market?“ Offenbar ist der Spice Market die Attraktion in der Gegend. Es handelt sich um ein Karrée, in dem mit Gewürzen gehandelt wird. Rundum sieht man alte Gebäude, in der Mitte stehen einige modernere Häuser. Über Treppen gelangt man nach oben auf das Dach des Karrées, von dem aus man einen wundervollen Überblick hat. Die modernen Gebäude in der Mitte wirken kubistisch, gerahmt vom alten Karrée wie ein Gemälde. Wie gerne hätte man hier eine Drohne… „Take picture, here“, ruft mir ein Einheimischer zu – man kennt die Fotospots.

Ein Buchladen in Old Delhi, der Händler ist offenbar selbst lesebegeistert.

Hier versuche ich also, Fotos aufzunehmen, die eine Gefühl für die Gegend geben. Als Einstieg gelingt dies mit Bilder aus der Vogelperspektive oft recht gut – sie können dabei helfen, dem Betrachter Information und Atmosphäre zu vermitteln.

Die kleinen Gassen bieten sich optimal für Strukturfotos an – überall sieht man verwitterte Texturen, die förmlich „Foto“ rufen.

Vor manchen Wänden zeigen sich sogar Motive, die an bewusste Installationen erinnern – Ton in Ton und durch verschiedene Streetlights skurril ausgeleuchtet.

Ein Verkäufer in den kleinen Gassen Old Delhis – als hätte er extra Tarnfarben angelegt…

Und wie sieht es mit Menschen aus? Old Delhi ist voll von Menschen, die einkaufen, verkaufen, essen, sich ausruhen, Karren schieben, Rikshaw fahren – sogar Friseure sieht man am Straßenrand, die Männern den Bart stutzen und die Haare kürzen. Die meisten sind der Fotografie gegenüber sehr aufgeschlossen, der ein odere andere nickt freundlich in Richtung Kamera, manchmal wird man sogar aufgefordert, schnell ein Bild zu schießen – oder umgekehrt, man wird selbst zum Fotoobjekt. Ein Handy wird gezückt, man hört „Please smile“, und der Betreffende hat ein Selfie mit mir im Kasten. Da ich selber fotografiere, finde ich es nur fair, auch nett in die ein oder andere Handylinse zu lächeln – es sollte ja ein Geben und Nehmen sein. Wer nicht fotografiert werden möchte, macht dies ebenfalls schnell deutlich – Mißverständnisse gibt es so kaum. Schwieriger ist es, eine Person aus der Menge herauszugreifen, also richtig zu casten, und sie dann zu fotografieren, ohne dass ihre Freunde und Bekannte ins Bild hüpfen. Manchmal muss man schnell sein, häufiger aber geduldig und warten. Porträts nehme ich gerne mit einer höheren Brennweite auf, um den Hintergrund bei offener Blende etwas weichzuzeichnen und die Person so zu isolieren. Das bedeutet aber, ich brauche Abstand zur Person – und genau hier liegt das Problem: Im Getümmel quetschen sich ständig Menschen zwischen mich und mein Sujet. Man muss also manchmal einen langen Atem mitbringen.

Noch ein Stillleben vor einem Street-Imbiß – um hier fotografieren zu können, brauchte es ein superweitwinkliges Objektiv.

Schwarz-Weiß – das ist für mich eine ganz besondere Herausforderung, denn Old Delhi steckt voller Farben. Aber manchmal kann es dabei helfen, sich nur auf Strukturen zu konzentrieren, auf Formen, Gesichter – und die Farben zurückzustellen. Um mir diese Perspektive zu erleichtern, stelle ich den elektronischen Sucher auf Schwarz-Weiß. Wenn ich im RAW-Format fotografiere, habe ich doch am Ende noch farbige Fotos, falls ich später nicht auf die Farben verzichten kann.

Alle Aufgaben erfüllt – jetzt darf man sich erst ein paar leckere Samosas gönnen und noch während ich das Essen genieße, sehe ich schon wieder das nächste Motiv. Das Fotofieber und die Faszination „Old Delhi“ haben mich mal wieder fest im Griff …