von Ulrich Hägele

© Fotos Heinz Pietsch

„Nicht ohne meine Kamera“, lautete das Motto des Tübingers, der unzählige Details aus seinem Alltag dokumentierte. Der Foto-Wissenschaftler Ulrich Hägele hat sich mit seinem Werk auseinandergesetzt.

Das digitale Zeitalter hat in der privaten Fotografie zu einer Bilderflut geführt, die kaum mehr zu überschauen ist. Digitale Bilder sind flüchtig und vergänglich zugleich. Flüchtig, weil zumeist en passant aufgenommen – vergänglich, weil kaum jemals nachhaltig abgespeichert wird. Digitale Fotografinnen und Fotografen halten den Alltag fest, jedes Detail aus jedem erdenklichen Blickwinkel und zu jeder Tages- oder Nachtzeit. Digitale Bilder – Videos mit eingeschlossen – sind in Sekundenschnelle gepostet auf Instagram, Facebook oder Pinterest. Eine gigantische, sich stetig erneuernde visuelle Online-Galerie, die kein Mensch je zur Gänze betrachten kann. Digitale Fotografen brauchen keine Filmdosen und auch keine Systemkameras mehr – Spiegelreflexapparate mit Normalobjektiven, Zoom- oder Makrolinsen. Auch Projektoren, Magazine, Fotokartons und Dia-Schränke sind entbehrlich geworden. Hunderttausend Bilder passen auf eine einzige „Secure Memory Card“ – sprich: SD-Karte. Digitale Fotografen haben ein Smartphone – das universale Tool für moderne Kommunikation und Visualisierung.

„Gisela mit neuem Herd“ (1967) – trivialer Schnappschuss oder fast schon ironischer Kommentar zum Zeitgeist?

Das alles hatte Heinz Pietsch nicht. Und dennoch: Im Laufe seines Lebens knipste er analog über hunderttausend Dias. Der Alltag in der Familie war ohne Kamera undenkbar: Ähnlich wie ein Paparazzo zückte Pietsch bei jeder Gelegenheit den Fotoapparat. Nach dem Shoppen im Supermarkt – Klick: der offene Kofferraum des Mercedes – Einkaufstasche, eingeschweißter Brotlaib, Fünferpackung Durodont Zahncreme, Schokoküsse, Leinsamen von Schneekoppe, Windsor de Luxe-Cigaretten – Klick: Ehefrau auf dem Sofa, Kopf unter der Trockenhaube – Klick, Klick: Kontrolle des Ölstands beim schwarzen Opel mit dem Haifisch-Kühler, Reklame zur Bundestagswahl 1953 und – Klick, Klick, Klick: der nächtlich beleuchtete Swimmingpool bei Freunden, ein Ölfleck auf der Landstraße, Ehefrau Gisela beim Federballspiel. Heinz Pietsch fotografierte skurrile Dinge wie das Honigbrot, das Brillenrezept, die neuen Schuhe, Dessous aus dem Neckermann-Katalog und einen Stapel Lottozettel – Klick: die gesammelten Nieten der Jahre 1958-66. Wichtige Ereignisse lichtete er mit dem Stativ direkt von der Tagesschau auf dem Fernsehschirm ab: Apollo-Sojus-Projekt, Skylab-Landung, Challenger-Katastrophe, Filmstar Curd Jürgens, Quizmaster Hans-Joachim Kulenkampff in der Rate-Show „Einer wird gewinnen“, Bundeskanzler Helmut Schmidt zu Besuch beim Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker – und Klick: Leonid Breschnew in Bonn, Mister Tagesschau Karl-Heinz Köpcke verkündet die Heimreise des Staatsgastes.

Leere Straßen – ein Bild, das wir uns heutzutage wohl oft wünschen würden und das uns die Veränderung deutlich vor Augen führt. Wir sehen hier das Ende der A81 bei Weinsberg im Jahr 1963.

Geboren 1926 in Bautzen, absolvierte Heinz Pietsch 1942 ein Notabitur und machte eine Lehre bei der Sparkasse. Die Wehrmacht rekrutierte ihn im Januar 1944 zum Kriegsdienst. Im Mai 1945 nahmen Bekannte im Allgäu den Demobilisierten bei sich auf. Dann wechselte der kaum Zwanzigjährige nach Tübingen, um dort auf Lehramt zu studieren. Das Geld war knapp, er fand statt des Studiums einen Job bei der Kreissparkasse. 1951 lernte er seine Frau Gisela (1925-2009) kennen. Aus dem zerstörten Offenburg war die gebürtige Gelsenkirchenerin am 6. Mai 1946 in Tübingen angekommen: „Mein erster Gedanke war: ‚Hier will ich nie wieder weg!’“ Die gelernte Buchhalterin arbeitete bei der Kreisbaugesellschaft und anschließend fast drei Jahrzehnte bei einer Druckerei. Gisela hatte eine kleine Tochter, Gabi. Heinz Pietsch war verliebt. Das erste Foto von Gisela knipste er heimlich in der Tübinger Altstadt. 1952 heirateten die beiden. Die frisch Vermählten zogen mit Gabi in ein bescheidenes Häuschen in der Vorstadt. Heinz Pietsch studierte von 1957 bis 1959 an der PH Stuttgart und wurde Dorfschullehrer in der Umgebung von Tübingen. Auch als Lehrer drückte er häufig auf den Auslöser: Einschulung, Ausflug oder Kinder im Klassenzimmer.

Ein Bild im Bild: der Fernseher als zentrales Element der Alltagskultur seit den 1950ern. Im Fernsehen sieht man eine Sendung mit Margot Hielscher aus dem Jahr 1956.

Was war der Antrieb für die Fotoleidenschaft von Heinz Pietsch? Seine Frau Gisela äußerte sich dazu 2004 im Gespräch mit Wolfgang Sannwald und Klaus Gaebele vom Tübinger Kreisarchiv: „Seine Motivation bestand darin, jeden Augenblick als einmalig wahrzunehmen, unter dem Motto: ‚Das kommt nie, nie wieder.’“ Ohne Fotoapparat sei ihr Mann „nicht angezogen“ gewesen. Heinz Pietsch sah denn auch seine Kamera als eine Dokumentarin der Wahrheit, wie von Roland Barthes beobachtet: Um etwas in der Gegenwart zu beglaubigen, als Beweissicherung für die Zukunft. So dokumentierte Pietsch nicht nur die sich verändernde Tübinger Altstadt, sondern auch die Neubaugebiete in der Süd- und Weststadt, die ansonsten niemand fotografiert hätte. Heinz Pietschs „Klick“ war überall zu hören, auch das seiner Pocketkamera Minox B im Supermarkt: „Da begann der Marktleiter empört zu schimpfen, weil er dachte, dass hier die Konkurrenz spionieren würde.“ Außerdem hatte er folgende Kleinbildkameras im Einsatz: Edixa II der Wiesbadener Kamerawerke Wirgin, Kodak Retina, hergestellt in Stuttgart-Wangen, Dacora Dignette der Firma Dangelmeier & Co in Reutlingen sowie Praktika Spiegelreflexkamera von VEB Pentacon Dresden.

Ein halbes Jahrhundert vor dem Selfie-Boom im Zeitalter der digitalen Fotografie machte Heinz Pietsch in unzähligen Positionen Selbstporträts: zu Hause mit Geburtstagsgeschenken, beim Bummel in der Stadt, mit dem Wagen in der Natur oder gemeinsam mit Frau und Stieftochter auf Einkaufstour. In Pietschs Bildern spiegelt sich die vordergründig ausgelebte Sorglosigkeit der Wirtschaftswunderjahre – die Zeit von 1933 bis 1945 hatte man verdrängt. Der Massenkonsum wurde zum kollektiven Muster im Alltag der Kriegsgeneration – ganz konkret aber auch in der eigenen Biografie: Alles drehte sich ums Kaufen und Habenwollen. Geschenke unter dem Weihnachtsbaum und an Geburtstagen gab es zuhauf, stets vom Fotografen minutiös arrangiert und hernach mit der Kamera für die Ewigkeit festgehalten. Der schieren Masse der Bilder ist allerdings auch eine gewisse Besessenheit im Kontext ihrer Entstehung nicht abzusprechen.

Dieses Motiv, fotografiert im Jahr 1968, könnte auch aus einem alten Horrorfilm stammen.

Heinz Pietsch entwickelte für sich ein eigenes System zur Archivierung seiner Farbdias, notierte sämtliche Informationen zu den Bildern wie Ort, Datum und abgelichtete Personen in Schulheften. Außerdem nummerierte er seine Dias fortlaufend – Fotografieren als Passion und auch eine Art visuelles Pop-Art-Tagebuch im Sinne Andy Warhols, der in den 1960er-Jahren auf die Idee gekommen war, sein Leben in Realzeit filmen zu lassen. Schon zuvor hatte der New Yorker Künstler alltägliche Gegenstände wie Suppendosen, Waschmittelpackungen oder Colaflaschen in den Vordergrund seines Schaffens gerückt – triviale Objektivationen nunmehr zu Ikonen der künstlerischen Moderne stilisiert. Genau wie Warhols Serigrafien besitzen auch Pietschs Fotografien oft einen deutlich ironischen, ja mitunter makabren Charakter. Der tote Wellensittich auf dem heimischen Fußboden scheint hierbei ebenso bewusst inszeniert wie das akkurat im Zentrum des Bildes drapierte und ästhetisch anmutende Honigbrot.

Gisela Pietsch charakterisierte ihren Mann als Pessimisten, Langsamfahrer und Sicherheitsfanatiker. Sie habe den überregionalen Teil des Schwäbischen Tagblattes gelesen und er den lokalen. Die Kamera wurde bei Pietsch zu einem verlängerten Arm, ja zu seinem dritten Auge, und war bald wie mit ihm verwachsen. Mit dem optischen Gerät, dem fortlaufenden Ablichten und visuellen Festhalten der Umgebung schaffte er sich Distanz. Vielleicht dienten ihm die unzähligen Bilder auch als Mittel gegen die Angst vor der eignen Vergänglichkeit, zum Schutz gegen die Zeit, wie Pierre Bourdieu einmal bemerkte.

Hier nahm Heinz Pietsch 1956 eine Schaufensterdekoration ins Visier.

Zugleich diente der Fotoapparat als Kommunikator zwischen der Innen- und Außenwelt des Protagonisten, durchaus wörtlich zu verstehen wie die inzwischen arg strapazierte Metapher von Fred R. Bernard aus dem Jahr 1921: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.“ Mithin fotografierte Heinz Pietsch, wenn er selbst sprachlos war: 1988 porträtierte er seine Frau Gisela in dem Moment, als sie vom Tod ihrer Tochter Gabi erfuhr. Im Jahr darauf – er ist längst im Ruhestand – stirbt der passionierte Raucher im Alter von nur 63 Jahren.

Heinz Pietschs Fotografien sind nicht nur visuelle Dokumente der Heimatgeschichte. Vielmehr vermitteln sie auch die Sicht des Familienoberhaupts auf die Familie, lassen biografische Verstrickungen erahnen. Und sie zeigen jene vermeintlich nebensächlichen Gegenstände oder Handlungen des Alltags, die im analogen Zeitalter weder ein Fotoamateur noch ein Profi aufgenommen hätte und die erst im digitalen Zeitalter Eingang in den thematischen Kanon der Fotografie gefunden haben. Damit sind die Bilder Zeugnisse des kulturellen patrimonialen Erbes. Wir sehen eine aus heutiger Sicht vielfach als Kitsch oder Trash wahrgenommene Ästhetik des Alltags: das Einfamilienhaus, die Wohnzimmer-Deko im Gelsenkirchener Barock und die auf antik getrimmten Tapisserien als Wandschmuck – Statussymbole, deren Besitz in den beiden Jahrzehnten der Nachkriegszeit in Westdeutschland zum kollektiven Lebensziel zählte.

Weihnachten, 1968: Seltsam nüchtern wirkt diese Aufreihung von Geschenken.

Auch die Mobilität mit dem eigenen Auto gehörte dazu. Heinz Pietsch hatte sich bereits als Kind – wie viele seiner Generation – nach einem eigenen Wagen gesehnt. 1959 war es soweit. Der stolze Familienvater hatte die Führerscheinprüfung bestanden. Mit Frau und Kind posierte er vor einem schwarzen Ford Taunus 12M „Weltkugel“, 1960 folgte der fabrikneue Käfer in Mintgrün. Sodann lichtete unser Fotograf seinen VW überaus variantenreich ab: auf dem Parkplatz in der Tübinger Altstadt, mit Alblandschaft, Frau und Familie oder auf dem Standstreifen am Ende der Autobahn 81 vor dem Städtchen Weinsberg bei Heilbronn. Man traut seinen Augen kaum – gähnende Leere auf dem Highway, nur zwei weitere Automobile sind in Sicht – Alltag im Jahr 1963!

Die gesammelten Lottoscheine aus dem Jahr 1966 – alles Nieten – kann man als Kommentar zu Hoffnung und Zeitgeist interpretieren.

Ein besonderer Glücksfall ist, dass sämtliche Bilder von Heinz Pietsch nebst einigen Selbstzeugnissen, Urkunden und Apparaten zur Gänze im Tübinger Kreisarchiv erhalten geblieben sind. Im Rahmen eines studentischen Projekts am Institut für Medienwissenschaft der Universität Tübingen sichteten wir zunächst rund zehntausend Diapositive. Fünfhundert davon kamen unter ikonografisch-phänomenologischen Aspekten in die engere Wahl. Rasch kristallisierten sich fünf thematische Schwerpunkte heraus: Stadt, Familie, Mobilität, Alltagsgegenstände und Feste/Rituale. Für eine Ausstellung und den Katalog mussten wir die Dias digitalisieren. Dies geschah hybrid, also mit analoger Lichttechnik und digitaler Kamera. In der Postproduktion gingen wir besonders behutsam vor. Eventuelle zeit- und materialbedingte Verfärbungen ließen wir bestehen und fleckten nur die Verschmutzungen auf der Oberfläche der Glasrähmchen aus. Am Ende ließen wir die digitalisierten Dias in einem Tübinger Copyshop auf kartonstarkes Papier kopieren. In der Ausstellung waren die Bilder dann hinter Passepartous zu sehen.

Gruselig oder ironisch wirkt das Motiv „Puppe im Rinnstein“ von 1957.

Die Dauerpräsenz der Kamera in Pietschs Leben erinnert besonders an David Bradford. Der Art-Director einer Werbeabteilung hatte im Jahr 1990 seinen gut dotierten Job gekündigt und beschlossen, Taxifahrer zu werden. Er kam auf die Idee, die Stadt von seinem neuen mobilen Arbeitsplatz aus mit der Kamera festzuhalten. Der Chauffeur zeigte New York aus einer gänzlich ungewohnten Perspektive. Das Yellow Cab fungierte als schützender Kokon, von dem aus der Fotograf seine Straßen- und Häuserumwelt anvisierte. Heinz Pietschs Fotografien sind sehr wahrscheinlich nicht mit künstlerischem Anspruch entstanden. Fotohistorisch betrachtet zeichnen sie sich allerdings durch ein einzigartiges motivisches Setting aus – insofern sind sie allesamt kleine Kunstwerke, die uns die Welt der Nachkriegszeit auf unnachahmliche Art nahebringen: Heinz Pietsch hatte nicht nur den Blick eines versierten Fotografen. Im Abstand von 50, 60 und mehr Jahren hat sein „drittes Auge“ ein regelrechtes Kaleidoskop der Visualisierung des Trivialen geschaffen. Mit der Einzigartigkeit seines Werks ist er posthum doch noch zum Künstler avanciert und damit unsterblich geworden.

Für dieses Selbstporträt inszenierte sich Heinz Pietsch 1981 mit seinen Kameras.